Название: Outsider
Автор: Jonathan Wilson
Издательство: Bookwire
Жанр: Сделай Сам
isbn: 9783730701195
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„Wir spielten auf einem großen, brachliegenden Feld hinter einer Wodkabrennerei, wo wir uns Tore aus rostigen Eisenbahnschienen gebaut hatten“, erinnerte sich Jewtuschenko. „Es hatten sich mehrere hundert Zuschauer versammelt, darunter auch die Fans von Marjina Roschtscha, die man anhand ihrer düster-verschwörerischen Ausstrahlung unschwer erkennen konnte. Angeführt wurden diese Claqueure von einem einäugigen Typen um die 30, genannt Billy Bones. Von Beruf war er Lumpensammler, von seinen Vorlieben her allerdings Säufer und Bandit.“ Wie erwartet spielten die Zerstörer äußerst ruppig. Sowohl der Mittelstürmer als auch der beste Verteidiger in Jewtuschenkos Mannschaft wurden verletzt. Das gleiche Schicksal widerfuhr schließlich auch dem Torhüter, der aber tapfer weitermachte:
„Gegen Ende der Begegnung waren unsere Spieler allesamt mit blauen Flecken und Schrammen übersät. Doch noch hatte es kein Tor gegeben. Die Zerstörer waren beinahe verrückt vor Wut. In einer heiklen Situation war einer unserer Verteidiger dann töricht genug, den Ball mit der Hand zu stoppen. Das führte zu dem schlimmstmöglichen Moment für einen Torwart – einem Strafstoß. Der Kapitän der Zerstörer wirbelte den Ball in seinen Händen, klatschte ihm auf die Seiten, spuckte darauf und legte ihn auf den Elfmeterpunkt. Ich machte mich bereit.
Genau in dem Augenblick machte Billy Bones seinen Leuten mit den Fingern ein Zeichen, und ich spürte einen stechenden Schmerz in meinem Gesicht, dann einen zweiten und einen dritten. Die Anhänger der Zerstörer schossen mit Schleudern kleine Steine auf mich. Alles passierte nach bester südamerikanischer Art und Weise. Ich war halbblind vor Schmerz und konnte praktisch nichts mehr sehen, außer dem ganz ruhig daliegenden Ball. Vielleicht hat mir das geholfen.
Der Kapitän der Zerstörer machte sein grimmigstes Gesicht, lief an und schoss. Ich habe keine Ahnung, wie es passierte, aber der Ball gelangte in meine Hände. Billy Bones war fuchsteufelswild. Der Kapitän der Zerstörer kam mit einem zuckersüßen Lächeln auf mich zu und streckte seine Hand aus, um mir zu gratulieren. Ich war zwar ein wenig überrascht angesichts dieser wundersamen charakterlichen Wandlung bei den Zerstörern, reichte aber in der Schlichtheit meines Herzens meine Hand zurück. Während er weiterhin zuckersüß lächelte, quetschte der Kapitän der Zerstörer unbeobachtet von den in der Nähe stehenden Leuten meine Hand daraufhin schmerzhaft zusammen, bis sie böse knackte, und drehte sie dann noch ein wenig. Gleichzeitig versuchte er, mit seinem Fuß den Ball aus meiner anderen Hand zu treten.“
Allein das wäre schon Stoff genug für eine Heldensaga gewesen und vielleicht auch noch glaubhaft, aber Jewtuschenko setzte noch einen drauf:
„Zornig, wie ich war, geriet ich in dem Moment in eine Art Trance. Ich riss mich los und rannte mit dem Ball am Fuß nach vorne. Ich sprang über ausgestreckte Beine von Gegenspielern, die mich zu Fall bringen wollten. Ein Fetzen meines Trikots blieb in den Händen von einem Zerstörer zurück, der vergeblich versucht hatte, mich mit allen möglichen Mitteln aufzuhalten. Ich wurde wie wild mit Steinen beschossen, fühlte aber keinen Schmerz mehr. Nachdem ich schließlich das gesamte Feld überquert hatte, schlüpfte ich auch noch am Torhüter der Zerstörer vorbei. Aus einem sadistischen Rachegefühl heraus schoss ich aber nicht sofort das Tor. Ich stoppte den Ball auf der Torlinie und drehte mich um, so dass mein Rücken zum Tor zeigte und ich sehen konnte, wie die Zerstörer mit verzerrten, angespannten Gesichtern auf mich zurannten. Ich stand da wie in Habachtstellung, beugte meinen Kopf leicht vor und wartete ab. Als die Zerstörer mich erreicht hatten, schob ich den Ball ganz sachte mit meiner Hacke ins Netz. Die Pfeife des Schiedsrichters ertönte und verkündete das Ende des Spiels wie auch unseren Sieg.“
Die Zerstörer bildeten einen Kreis um Jewtuschenko, schlugen ihn zu Boden und zogen ihre Messer. Doch da kam auf einmal Billy Bones, augenscheinlich von der Tapferkeit des Torwarts überwältigt, und befahl, ihn in Ruhe zu lassen. Das Ende dieser Episode kombiniert den Schluss von Wratar mit dem Ende des Todesspiels, so dass man nur schlussfolgern kann, dass Jewtuschenko hier etwas zu dick aufgetragen und Dichtung und Wahrheit vermischt hat. Dennoch sagt es viel darüber aus, wie verbreitet die Vorstellung des heldenhaften Torhüters in der UdSSR war.
Wratar bereitete den Boden für Jaschin. Doch bevor er in Erscheinung trat, gab es noch einen Vorgänger aus dem echten Leben – einen Torwart, von dem viele bis heute meinen, er sei der beste, den Russland jemals hervorgebracht hat, und der bei Dynamo Moskau so unumstritten war, dass sein Vertreter Jaschin sich beinahe vom Fußball verabschiedet und aufs Eishockey konzentriert hätte. Sein Name war Alexei Chomitsch.
Chomitschs Qualitäten als Torhüter wurden erstmals offenbar, als er während des Zweiten Weltkriegs seinen Armeedienst im Iran absolvierte. Auch wenn er nur 1,73 Meter maß, was selbst zur damaligen Zeit klein für einen Torwart war, besaß er eine gewaltige Sprungkraft, weshalb ihn die Offiziere „Tiger“ nannten. Chomitsch war sehr sportlich und auch ein hervorragender Turner, Schwimmer und Turmspringer, zudem spielte er auf sehr ordentlichem Niveau Volleyball und Schach. Er arbeitete hart an seiner Leistung und widmete sich voll und ganz dem Training, dachte aber auch über das Spiel nach und entwickelte unter anderem neue Varianten für den Abwurf von hinten heraus.
Chomitsch war 25 Jahre alt, als er sein Debüt bei Dynamo gab, galt aber schon bald als bester Torhüter des Landes. Auch wenn er allgemein als zurückhaltend, ja fast schon introvertiert beschrieben wird, besaß er doch einen gewissen Charme. Auf Dynamos Gastspieltournee durch Großbritannien 1945 wurde er zur Kultfigur, ungeachtet eines Fauxpas beim Willkommensempfang für die Mannschaft in London. Wegen eines Films über die Geliebte von Lord Nelson, der sich im damaligen Moskau gerade großer Beliebtheit erfreute, geriet er etwas durcheinander und begann seine Rede mit den Worten „Meine Damen und Hamiltons …“. Doch sein Können als Torwart hinterließ Eindruck. „Er ist ständig in Bewegung, sehr behände, schwer zu überwinden“, sagte Chelseas damaliger Trainer Billy Birrell.
So sehr wurde Chomitsch verehrt, dass der Daily Express anlässlich einer Tour der Glasgow Rangers durch Russland Anfang der 1960er Jahre den Journalisten James Sanderson bat, ihn zu interviewen. Nach einem halbherzigen Versuch, Chomitsch aufzuspüren, steckte Sanderson dessen Honorar in die eigene Tasche und dachte sich den Artikel einfach aus. Danach terrorisierten ihn wochenlang Rangers-Spieler mit Telefonanrufen, in denen sie sich als sowjetische Funktionäre ausgaben und rechtliche Schritte wegen der falschen Darstellung eines Genossen androhten. Da war Chomitsch allerdings längst ersetzt worden, sowohl bei Dynamo als auch in der öffentlichen Gunst – nämlich durch Jaschin.
Jaschin wurde 1929, neun Jahre nach Chomitsch, geboren. Als er sechs Jahre alt war, starb seine Mutter an Tuberkulose. Fünf Jahre später marschierte Deutschland in die UdSSR ein. So kam es, dass er neben der Schule auch seinen Beitrag zum Krieg leisten musste. Gemeinsam mit seinem Vater arbeitete er in einer Fabrik, die im Militärproduktionskomplex Krasnij Bogatir (Roter Held) in Tuschono nahe Moskau Flugzeugteile herstellte. Schon damals legte Jaschin die Großzügigkeit und Bescheidenheit an den Tag, für die er später so bekannt werden sollte – sagt zumindest Walentina. „Die zweite Frau seines Vaters erzählte mir, dass er während des Krieges immer einen Jungen namens Isja mit nach Hause brachte, der mit einer großen Familie in Mietskasernen in der Nähe wohnte. Lew erzählte ihr, dass СКАЧАТЬ