Und das Eigenartige ist, dass das Bewusstsein der Menschheit seit mindestens zehntausend Jahren in dieser magischen, ritualistischen Religion gefangen ist – obwohl es sich erwiesen hat, dass die Bestechung meistens erfolglos bleibt. Zu neunundneunzig Prozent scheitern die Versuche! Wenn zum Beispiel der große Regen ausbleibt, wird ein magisches Opferritual vollzogen, um die Götter günstig zu stimmen, damit sie den Regen schicken. Und manchmal kommt er tatsächlich. Aber er kommt auch zu all jenen, die nicht den Göttern gehuldigt und das Ritual vollzogen haben. Er kommt genauso zu den Feinden der Menschen, die darum gebetet haben.
Der Regen hat nichts mit den Ritualen zu tun, aber der Regen wird als Beweis dafür genommen, dass das Ritual erfolgreich war. In neunundneunzig von hundert Fällen ist das Ritual erfolglos. Es kann keinen Erfolg haben, weil es nichts mit dem Wetter zu tun hat. Es gibt keinen wissenschaftlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Ritual – der Feuerzeremonie, den Mantras – und den Regenwolken.
Die Priester sind mit Sicherheit schlauer als die Menschen, die von ihnen ausgebeutet werden. Sie wissen ganz genau, was in Wirklichkeit vor sich geht. Die Priester haben noch nie an Gott geglaubt, vergesst das nicht. Sie können nicht an Gott glauben, geben sich aber den Anschein, als glaubten sie an ihn, mehr als jeder andere. Sie müssen so tun; es ist ja ihr Beruf. Je stärker ihr Glaube, umso größere Menschenmassen werden sie anziehen – deswegen legen sie sich mächtig ins Zeug. Mir ist aber noch nie ein Priester begegnet, der wirklich geglaubt hat, dass Gott existiert. Wie kann er es glauben, wenn er doch tagtäglich miterlebt, dass kaum ein Ritual oder ein Gebet jemals den gewünschten Erfolg bringt. Und wenn, dann ist es reiner Zufall. Meistens ist es erfolglos. Aber er liefert sogleich eine Erklärung für die armen Leute: „Ihr habt das Ritual nicht richtig gemacht. Ihr wart dabei nicht von reinen Gedanken erfüllt.“
Nun, wer ist schon erfüllt von reinen Gedanken? Was ist überhaupt ein reiner Gedanke? Bei einem Ritual des Jainismus, zum Beispiel, müssen die Leute fasten. Während sie das Ritual ausführen, denken sie dauernd ans Essen – und das ist ein unreiner Gedanke. Ein hungriger Mensch, der ans Essen denkt … Ich finde nicht, dass das ein unreiner Gedanke ist. Es ist genau der richtige Gedanke! Eigentlich ist es ein Fehltritt, wenn jemand in einem solchen Moment das Ritual fortsetzt. Er sollte schnurstracks in ein Restaurant gehen!
Doch der Priester liefert ihm eine einfache Erklärung, warum das Ritual nicht funktionierte: Gott lässt euch nie im Stich – er ist immer bereit, euch zu beschützen. Er ist der Schöpfer, der Erhalter, der Lieferant – er lässt euch nie im Stich. Aber ihr habt ihn im Stich gelassen! Während ihr eure Gebete sprecht oder dem Ritual folgt, seid ihr voller unreiner Gedanken. Und die Leute wissen natürlich, dass der Priester Recht hat, denn sie haben an Essen gedacht. Oder an eine schöne Frau, die gerade vorüberging und das Verlangen in ihnen weckte, sie zu besitzen. Diese Gedanken haben sie natürlich weggedrängt – aber es war schon zu spät! Es war schon passiert. Alle wissen, dass sie unreine Gedanken haben.
Ich kann darin überhaupt nichts Unreines sehen. Wenn eine schöne Frau an einem Spiegel vorbeikommt, wird er die schöne Frau reflektieren. Ist der Spiegel deshalb „unrein“? Dein Bewusstsein ist ein Spiegel – er reflektiert einfach. Dein Bewusstsein nimmt alles wahr, was um dich herum geschieht. Und dein Verstand kommentiert alles; er liefert ständig seine Kommentare dazu. Wenn du es beobachtest, wirst du dich wundern: Einen besseren Kommentator findest du nicht. Dein Verstand wird dir sagen: „Diese Frau ist schön.“ Und wenn du das Verlangen nach Schönheit hast, sehe ich darin nichts Verkehrtes. Wenn du das Verlangen nach Hässlichkeit hättest, wäre etwas verkehrt; dann wärest du krank. Schönheit verlangt nach Bewunderung. Wenn du ein schönes Gemälde siehst, möchtest du es besitzen. Wenn du irgendetwas Schönes siehst, folgt wie ein Schatten der Gedanke: „Wenn diese schöne Sache doch mir gehören könnte …“ Solche Gedanken sind ganz natürlich. Doch der Priester wird sagen: „Der Regen ist nur ausgeblieben, weil ihr unreine Gedanken hattet!“ – und ihr seid absolut wehrlos. Ihr wisst, dass er Recht hat, und ihr schämt euch dafür.
Gott hat immer Recht. Aber selbst wenn der Regen sich einstellt, werden euch genau die gleichen Gedanken durch den Kopf gegangen sein, denn ihr wart dieselben. Wenn ihr Hunger hattet, dachtet ihr an Essen. Wenn ihr durstig wart, dachtet ihr an Wasser. Solche Gedanken waren genauso vorhanden. Nur, wenn der Regen kommt, interessiert sich keiner für eure schlechten Gedanken. Dann wird der Priester euch loben, eure Disziplin und eure Frömmigkeit: „Gott hat euch erhört.“ Und dann fühlt sich das Ego befriedigt und man fragt nicht: „Was ist mit den unreinen Gedanken?“ Wer wird die unreinen Gedanken erwähnen, wenn der Erfolg sich einstellte und Gott euch erhört hat? Aber meistens erhört euch niemand. Der Himmel bleibt leer und es kommt keine Antwort. Das hindert aber die magische Religion nicht an ihrem Weiterbestehen.
Die magische Phase ist die primitivste Stufe der Religion. Zum Teil besteht sie noch in der zweiten Phase weiter, es gibt keine klare Trennlinie. Die zweite Phase ist die der Pseudoreligionen: Hinduismus, Christentum, Islam, Judaismus, Jainismus, Buddhismus, Sikhismus – insgesamt mehr als dreihundert solcher „Ismen“. Sie alle sind Pseudoreligionen. Sie haben sich ein bisschen weiter entwickelt als die magische Religion. Die Religion auf der magischen Stufe ist grundsätzlich ritualistisch. Sie stellt den Versuch dar, Gott um Unterstützung zu bitten. Wenn der Feind Anstalten macht, das Land zu überfallen, wenn die Regenzeit ausbleibt oder wenn es zu viel Regen gab und die Flüsse über die Ufer treten und die ganze Ernte zu vernichten drohen … Jedes Mal, wenn irgendeine Katastrophe bevorzustehen scheint, wird Gott um Hilfe gebeten. Die magische Religion verlangt keine Disziplin von euch, darum unterdrückt sie nichts. Sie ist noch nicht an eurer Transformation interessiert; sie will euch nicht verändern.
Die Pseudoreligionen verlagern die Aufmerksamkeit von Gott auf den Menschen. Gott bleibt zwar im Spiel, aber er tritt in den Hintergrund. Für den magisch-religiösen Menschen war Gott ganz nahe – er konnte mit ihm reden, konnte versuchen, ihn zu überzeugen. Die Pseudoreligionen haben das Konzept von Gott zwar beibehalten, aber ihr Gott ist weit weg – sehr weit, ganz weit weg. Die einzige Möglichkeit, ihn zu erreichen, besteht nicht mehr in Ritualen, sondern nur in einer wesentlichen Veränderung des eigenen Lebensstils. Mit den Pseudoreligionen beginnt der Versuch, die Menschen zu formen und zu verändern.
Die magischen Religionen lassen den Menschen, wie er ist. Deshalb sind die Gläubigen der magischen Religionen natürlicher und weniger scheinheilig, aber urwüchsiger, primitiver, unzivilisierter. Die Anhänger der Pseudoreligionen sind gekünstelter, kultivierter, gebildeter. Für sie bedeutet Religion nicht bloß ein Ritual; Religion wird für sie zur Lebensphilosophie.
In der zweiten Phase der Religion beginnt die Anwendung der Unterdrückung. Warum haben sämtliche Religionen die Unterdrückung als Hauptstrategie eingesetzt, und zu welchem Zweck? Das Phänomen der Unterdrückung zu verstehen, ist ungeheuer wichtig. In allen anderen Punkten unterscheiden sich die Religionen voneinander, in allen anderen Aspekten sind sie einander entgegengesetzt. Die Religionen stimmen in keinem einzigen Punkt überein – außer, was die Unterdrückung betrifft. Demnach scheint die Unterdrückung ihr wichtigstes Werkzeug zu sein. Was tun sie damit?
Unterdrückung ist der Mechanismus, mit dem die Religionen euch versklaven. Damit bringen sie die Menschheit in eine psychische und spirituelle Sklaverei. Lange bevor Sigmund Freud das Phänomen der Unterdrückung entdeckte, hatten die Religionen es schon seit fünftausend Jahren angewandt, und mit Erfolg.
Die Methode ist einfach. Sie besteht darin, dich dir selbst zum Feind zu machen. Aber sie wirkt Wunder. Wenn du erst einmal СКАЧАТЬ