Währenddessen saß das Fischermädchen ganz still auf dem Baum und dachte, niemand hätte es bemerkt. Zusammengekauert verfolgte sie von hoch oben durch das Laub den Verlauf der Schlacht. Als aber der wutschnaubende Polizist zu den alten Frauen hinausgegangen und Pedro Ohlsen allein im Garten geblieben war, stellte er sich direkt unter den Apfelbaum, sah hinauf und rief: „Komm augenblicklich runter, du Teufelsbraten!“ Nicht ein Mucks drang aus dem Baum. „Willst du wohl runterkommen, sag ich! Ich weiß, daß du dort oben bist!“ Absolute Stille. „Jetzt geh ich rein und hol mein Gewehr und dann schieß ich dich runter!“ Er tat, als wolle er gehen.
„Hu-hu-hu!“ machte es oben im Baum.
„Ja, plärr du nur, denn nun kriegst du eine ganze Schrotladung in den Leib!“
„U-hu, hu, hu, hu!“ heulte es eulengleich. „Ich hab ja solche Angst!“
„Ach, den Teufel hast du. Du bist der schlimmste Tunichtgut der ganzen Meute, aber nun hab ich dich!“
„Ach, lieber, guter, netter Herr Ohlsen! Ich will es auch nie wieder tun!“
Im selben Augenblick schleuderte sie ihm einen faulen Apfel genau auf die Nase, und ihr unbändiges Jubellachen erschallte hinterdrein, denn der Apfel spritzte ihn von oben bis unten voll, und während er sich abputzte, sprang sie herab. Sie hing schon am Zaun, bevor er ihr folgen konnte, und sie wäre auch hinübergelangt, wenn sie nicht plötzlich aus Angst, daß er schon dicht hinter ihr sei, losgelassen hätte, statt ruhig weiterzuklettern. Als er sie aber festhielt, fing sie an zu kreischen. Gellend, ohrenbetäubend schrill und markerschütternd. Entsetzt ließ er sie los. Auf ihr Schreckenssignal strömten die Leute vor dem Plankenzaun zusammen. Sie hörte es und bekam sofort wieder Mut.
„Lassen Sie mich los, oder ich sag das meiner Mutter!“ drohte sie und war ein einziges Feuer und Funkeln.
Da kam ihm dieses Gesicht plötzlich bekannt vor, und er schrie: „Deine Mutter? Wer ist deine Mutter?“
„Gunlaug vom Hang, Fisch-Gunlaug!“ erwiderte das Kind triumphierend, denn es sah, daß er Angst bekam. Kurzsichtig, wie er war, hatte er das Mädchen noch nie so genau zu Gesicht bekommen. Er war der einzige in der Stadt, der nicht wußte, wer sie war. Ja, er wußte nicht einmal, daß Gunlaug wieder in der Stadt war.
Wie besessen schrie er: „Wie heißt du?“
„Petra!“ schrie sie noch lauter.
„Petra!“ wimmerte Pedro, drehte sich um und lief auf das Haus zu, als hätte er mit dem Teufel selber gesprochen. Weil sich aber der bleicheste Schrecken und der bleicheste Zorn gleichen, glaubte sie, er stürze hinein, um das Gewehr zu holen. Da packte sie die Angst, sie fühlte schon die Schrotladung in ihrem Hintern, und da in diesem Moment die Pforte von draußen aufgebrochen wurde, fegte sie wie das leibhaftige Entsetzen hinaus. Ihr schwarzes Haar flatterte hinter ihr her, die Augen sprühten Feuer. Der Hund, der ihr entgegenkam, machte kehrt und jagte ihr bellend nach. Und so fiel sie über die Mutter her, die gerade mit einer Schüssel voll Suppe aus der Küche kam. Und das Mädchen rein in die Suppe, und die Suppe auf den Boden und ein „Ach, zum Teufel noch mal!“ beiden hinterher.
Doch noch in der Suppe liegend, brüllte sie: „Er will mich totschießen, Mutter, er will mich totschießen!“
„Wer will dich totschießen, du Troll?“
„Na, Pedro Ohlsen!“
„Wer?“ schrie die Mutter.
„Pedro Ohlsen, wir haben seine Äpfel geklaut.“ Sie wagte nie etwas anderes als die Wahrheit zu sagen.
„Von wem redest du da, Kind?“
„Von Pedro Ohlsen, er kommt mit einem großen Gewehr hinter mir her, er will mich totschießen!“
„Pedro Ohlsen!“ stieß die Mutter schnaubend hervor und brach dann in Gelächter aus. Sie schien noch größer geworden zu sein. Petra fing an zu weinen und wollte weglaufen. Doch mit einem Satz war die Mutter über ihr und hielt sie fest. Die weißen Zähne blitzten raubtierartig. Sie packte Petra bei den Schultern und zog sie hoch: „Hast du gesagt, wer du bist?“
„Ja, ja, ja, ja!“ Das Kind hob flehend die Hände.
Da richtete sich die Mutter zu ihrer vollen Größe auf. „Also weiß er es nun! Was hat er gesagt?“
„Er lief rein, um das Gewehr zu holen, er wollte mich totschießen.“
„Der und dich totschießen!“ Sie lachte in wildem Hohn.
Von Kopf bis Fuß mit Suppe beschmiert, hatte sich das Kind verschreckt in einen Winkel verkrochen und putzte sich weinend sauber, als die Mutter wieder zurückkam.
„Wenn du dich je wieder unterstehst, zu ihm zu gehen“, sagte sie, packte Petra und schüttelte sie, „oder mit ihm zu reden oder ihm auch nur zuzuhören, dann gnade euch beiden Gott! Bestell ihm das von mir!“ fügte sie drohend hinzu, als das Kind nicht sofort antwortete.
„Ja, ja, ja, ja!“
„Bestell ihm das von mir!“ wiederholte sie, diesmal leise, und dabei nickte sie zu jedem Wort, und dann ging sie.
Das Mädchen wusch sich, zog sich um und setzte sich in seinen Sonntagssachen auf die Treppe vorm Haus. Aber bei der Erinnerung an den ausgestandenen Schrecken mußte sie wieder schluchzen.
„Weshalb weinst du, Kind?“ fragte da eine Stimme so freundlich, wie Petra noch keine gehört hatte.
Sie sah auf. Vor ihr stand ein feingliedriger Mann mit Brille und schmalem Gesicht. Sie erhob sich sofort, denn das СКАЧАТЬ