Название: Das Haus Lazarus
Автор: Michael Marrak
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Memoranda
isbn: 9783948616458
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Ich fühlte, wie die stinkenden Schwaden zusehends meine Sinne betäubten. »Ein Zeuge?«, wiederholte ich mit schwerer Zunge. »Wovon?«
»Der Dämmerung, Herr Simmonis. Des Zwielichts. Der Schattenwelt.« Er blieb stehen und wandte sich um. »Und natürlich ein Zeuge meiner Existenz.«
Ich kann nicht genau beschreiben, was er im nächsten Moment tat, als er wie in festlicher Euphorie die Arme hob. Es sah aus, als würde er mit beiden Händen über sich greifen, um die vermeintliche Wirklichkeit zu packen und sie wie eine dünne Stoffkulisse vor sich niederzureißen. Was im nächsten Augenblick vor mir stand, hatte mit einem Menschen kaum noch etwas gemein. Und doch glaubte ich ein Abbild dieser in einen Kapuzenumhang gekleideten Kreatur schon einmal gesehen zu haben: auf der Paradiestafel des Lustgarten-Altargemäldes, das Bosch für den Grafen von Nassau angefertigt hatte. Aber die seinem Kopf entwachsende Anomalie war keinesfalls eine Pestmaske oder gar ein langer Schnabel, wie Aleyd dereinst beim Betrachten des halb fertigen Bildes gemutmaßt hatte. Und auch ihr Unvermögen, des Nachts im Grachthof das Gesicht des Fremden zu erkennen, hatte nicht an der Dunkelheit gelegen – es gab schlichtweg keines. Aus der amorphen Schwärze unter der Kapuze ragte ein Paar armlanger, dornenbewehrter Fangzangen, die aussahen, als könnten sie einem Menschen mühelos den Kopf abtrennen.
»Was sind Sie?«, presste ich entsetzt hervor.
»Der Herr der dunklen Musen«, antwortete die Kreatur, wobei die monströsen Mandibeln sich im Rhythmus der Worte öffneten und schlossen. »Betrachten Sie meinen weltlichen Namen als Allegorie meines wahren Ichs – sofern Sie ihn zu deuten wissen.«
Ich wollte herumwirbeln, um diesem Albtraum zu entfliehen, aber meine Beine gehorchten mir nicht. Was auch immer dampfend aus der Tiefe des Pfuhls emporquoll, betäubte meinen Verstand. Der graue Dunst, den ich einatmete, lähmte meinen Geist, erstickte jeglichen Widerstand und machte mich auf erschütternde Weise gefügig. Es fiel mir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn mich verständlich zu artikulieren.
»Was wollen Sie von mir?«, brachte ich Wort für Wort mühsam über die Lippen.
»Nicht mehr als auch Gott von Ihnen verlangen würde: Hingabe. Ergebenheit. Selbstaufopferung, so heißt es, ist das Wunder, dem alle anderen Wunder entspringen. Also werden Sie ab heute tun, was seit dem Vergehen des letzten Edengartens ein jeder treue Zeuge bis heute tut: die Menschen daran erinnern, wie gut sie es einst hatten – und vom ewigen und unabwendbaren Scheitern jedes irdischen Paradieses auf Erden zeugen.« Er ergriff meine Arme, hob sie an und presste sie gegeneinander. »Nun lassen Sie mich Ihre Hände segnen …« Dann schnappten seine Fangzangen zu und trieben ihre Dornen tief in mein Fleisch.
Obwohl der Schmerz überwältigend war, drang nicht der leiseste Wehlaut aus meiner Kehle. Ich fühlte, wie etwas Heißes in meine Adern strömte und sich in meinem Körper auszubreiten begann.
»Du wirst Melchiors Platz einnehmen, Jakob«, drang van de Dageraads Stimme wie aus weiter Ferne zu mir durch. »Es ist eine Tugend, seinem Leben neuen Sinn zu verleihen, um einem höheren, wahrhaftigeren Ziel zu dienen. Heute bist du noch voll der Furcht und Schmerzen, doch schon morgen wird deine Angst der Erleuchtung und einem nie gekannten Schaffensdrang gewichen sein.« Er wandte sich um und setzte seinen Weg fort. »Mit der Morgenröte, Jakob«, hörte ich ihn sagen. »Mit der Morgenröte …«
Während ich der bizarren Kreatur willenlos hinterhertrottete, trafen wir auf nackte, pechverschmierte Gestalten, die apathisch auf dem Steg kauerten und an Zahl zunahmen, je tiefer wir hinabgelangten. Als sie uns kommen sahen, begannen sie sich zu regen. Manch ein Gebaren wirkte auf mich, als würden sie sich stumm bedanken, während andere aussahen, als flehten sie gestenreich um Gnade oder Erlösung. Einige versuchten gar zu sprechen, doch statt verständlicher Worte strömte aus ihren Mündern nur ein Schwall aus stinkendem schwarzem Schlamm.
Van de Dageraad ließ sich zu keiner Reaktion herab, sondern schritt an ihnen vorbei oder über sie hinweg, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Am unteren Ende des Gerüstes angelangt gebot er mir stehen zu bleiben und blickte über seinen Sündenpfuhl.
»Aleyd!«, rief er, woraufhin eine der vermummten Gestalten auf den Stegen sich langsam umwandte und zu uns herüberblickte. »Sieh, du hast einen neuen Schüler!«
EINE MORITAT AUS WOLKEN UND DUNKELHEIT
Ein Schattenmärchen 2
And the sky is filled with light.
Can you see it?
All the black is really white.
If you believe it.
NINE INCH NAILS, In This Twilight
Seid gegrüßt, Kinder. Habt ihr mich vermisst?
Keine Angst, ich bin es wirklich. Suchen euch denn so viele rastlose Geister heim, dass ihr an mir zweifeln müsst? Bringt mir ein Stück reines Eisen, und ich zeige euch, dass ich aus Fleisch und Blut bin.
Seht ihr? Kein Rauch, keine Flammen.
Ja, ich habe mich verändert, aber im Innern bin ich noch immer der, den ihr kennt. Bitte vertraut meiner Stimme, selbst wenn sie nicht mehr so klingt wie früher. Verzeiht, dass ich euch mein Gesicht nicht zeigen kann. Die Dunkelheit hat es verschluckt.
Bitte kommt näher, schart euch um mich, aber bleibt unter den Felsdecken, damit die Jäger der Dämmerung euch nicht sehen. Haltet euch vom Licht fern, das aus den Wolken fällt. Es sind keine Zeppeline oder gar Engel, denen es entspringt. Bei eurem Seelenheil, tretet niemals ins Licht! Versprecht mir, euch nie blenden zu lassen und dem verführerischen Strahlen nicht anheimzufallen. Es mag ein grausames Los sein, in eine der zahllosen Klüfte und Spalten zu stürzen und von den Toten gefressen zu werden. Viel schrecklicher ist es jedoch, den Boden unter den Füßen zu verlieren und hinauf in die Wolken gerissen zu werden – denn dort oben erwarten euch einzig und allein sie und ihre Klauen, um mit euch zu tun, was immer sie wollen. Sie sind den Regenten keine Rechenschaft schuldig.
Habt ihr die Häscher je mit eigenen Augen gesehen? Seid ihr den schwebenden Schatten schon einmal begegnet? Selten tauchen sie aus den Wolken herab, doch wenn sie sich unter uns mischen, kehren sie nie in ihre Gefilde zurück, ohne einen der euren aus eurer Mitte gerissen zu haben. Ihr Duft ist so betörend, ihre Zungen säuseln so lieblich und umgarnen eure Sinne, doch hütet euch vor ihren Fängen! Wehe denen unter euch, die schwach sind und ihren Verlockungen erliegen. Die Haut werden sie euch vom Leib ziehen und ihre Flügel damit bespannen und euer Gesicht auf ihr eigenes setzen. Sie empfinden nichts für die Lebenden, denn sie haben nie gelebt und wissen nicht um die Bedeutung des Lebens. Euer Leid berührt sie nicht, denn sie haben keine Seele. Eure Schmerzensschreie dringen an kein Ohr, denn das Hören ist ihnen fremd. Für die Häscher der Schatten seid ihr, was die Fische der Seen und Meere einst für uns waren: kalt und stumm, gefangen in den Elementen.
Bitte hört auf zu weinen, Kinder. Euer Wehklagen lockt sie aus den Wolken herab wie Feuerschein, der den Nebel glühen lässt. In keinem Versteck über dem Dach der Totenwelt seid ihr vor ihnen sicher. Und ihr wisst genau, wie schwer es ist, die Tarnung der Schatten zu durchschauen, nachdem einer der ihren sich unter euch geschlichen hat.
Kennt ihr die Geschichte des Kalifen Harun Al-Raschid? Er mischte sich Abend für Abend als Kaufmann verkleidet unter СКАЧАТЬ