Название: Das Haus Lazarus
Автор: Michael Marrak
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Memoranda
isbn: 9783948616458
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Elektrisiert suchte ich eine Passage, die in die Fußgängerzone jenseits der ehemaligen Stadtmauer führte – und stand bald darauf tatsächlich vor jenem Portal, hinter dem die geschwungene Holztreppe zu den Räumlichkeiten des Antiquariats führte.
»Herr Simmonis«, erklang van de Dageraads verzerrte Stimme und ließ mich zusammenzucken. »Es ist zwar Sonntag, aber bitte, kommen Sie doch herauf!«
Ich starrte auf den Lautsprecher der Gegensprechanlage, dann hob ich den Blick und fand in einer Ecke über der Tür eine kleine unscheinbare Videokamera. Beim Summen des Türöffners rammte ich die Pforte mit der Schulter auf und stapfte die Treppe empor.
»Es war wohl Intuition, heute zu arbeiten«, hörte ich den Antiquar aus seinem Allerheiligsten rufen, kaum dass ich die obere Ladentür geöffnet und die Räumlichkeiten betreten hatte. »Sonst hätte ich Sie glatt verpasst.«
Van de Dageraad hockte hinter seinem Arbeitstisch, als hätte er sich fünf Tage lang nicht von der Stelle bewegt.
»Intuition?«, fragte ich, als unsere Blicke sich trafen. »Tatsächlich?«
»Jeder Fluss, so steht es geschrieben, mündet in seine Quelle.« Mein Gegenüber behielt sein Lächeln bei. »Wie verlief Ihre Arbeit? Sind Sie zufrieden?«
»Das bin ich keinesfalls.« Ich trat vor ihn hin und nahm unaufgefordert Platz. »Und Sie wissen genau, warum.«
»Sagen wir, ich habe eine leise Ahnung …«
Ich schloss die Augen und atmete tief durch, dann zog ich die Schatulle mit dem Epistolarium aus meiner Tasche und legte sie vor ihm auf den Tisch, wobei ich meine Hände jedoch auf dem Deckel ruhen ließ.
»Warum?«
Van de Dageraad zog die Augenbrauen zusammen, was ihn in Kombination mit seiner Bergerac-Nase einem griesgrämigen Geier ähneln ließ. »Geht es vielleicht etwas genauer?«
»Ihr ›alter Freund‹ Melchior«, half ich ihm auf die Sprünge. »Er ist tot.«
»Oh schat«, entfuhr es dem Antiquar. »Das ist wahrlich bedauerlich. Wissen Sie vielleicht, was sich zugetragen hat?«
»Sagen Sie es mir!«
Van de Dageraad zog das Kinn an die Brust. »Sie glauben doch nicht ernsthaft, ich hätte etwas mit seinem Ableben zu tun?«, gab er sich entrüstet.
»Es ist doch ein seltsamer Zufall: Vier Tage nachdem ich Ihnen den Namen des Hotels verraten habe, segnet er just dort in seinem Zimmer das Zeitliche.«
Der Antiquar lehnte sich in seinem Sessel zurück, faltete seine Hände vor seiner Brust und sah mich lange und forschend an. »Herr Simmonis«, sagte er schließlich leise und ohne jedweden Grimm in der Stimme. »Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie alt Melchior war?« Als ich nicht antwortete, fuhr er fort: »Der Architekt Willem Molenbroek hatte sich nach der Einweihung seines berühmten Weißen Hauses in Rotterdam eines seiner Gemälde in sein Büro hängen lassen. Das war im September 1898.«
Ich verdrehte die Augen. Van de Dageraads Blick hingegen fand wieder die Buchschatulle. »Ich bin überrascht, dass Sie es bei sich haben«, gestand er. »Sie hatten doch bestimmt nicht vor, mich ausgerechnet heute mit Ihrem Besuch zu erfreuen.«
»Hotelzimmer sind ja offenbar nicht mehr sicher …«
Der Antiquar schürzte die Lippen, verbiss sich aber eine Bemerkung. Stattdessen fragte er: »Dürfte ich mich davon überzeugen, dass das Exponat in Ihren Händen nicht gelitten hat?«
Ich seufzte, dann schob ich die Schatulle zu ihm hin. »Wer war Elya?«, fragte ich, nachdem er sich seine Handschuhe übergestreift und ihr das Buch entnommen hatte.
»Die Schwester.« Van de Dageraad blätterte das Epistolarium vorsichtig durch und überprüfte den Zustand jeder einzelnen Seite. »Aleyds im Jugendalter dem Typhus anheimgefallene Zwillingsschwester.«
»Und wie endete die Geschichte?«
Mein Gegenüber hob den Blick. »Nun, ein Ende ist gewissermaßen immer auch ein Anfang«, erklärte er. »Das Ende dieses Briefes jedenfalls war ein Zeugnis, in dem streng gehütete Namen fielen und lästerliche Wahrheiten ausgesprochen wurden. Zu vieles von beidem, um ehrlich zu sein.«
»Dann hat also nie ein dreizehnter Brief existiert?«
»Nur das Ende jenes Berichts, dessen Sie so befremdenden Großteil Sie gelesen haben«, bestätigte van de Dageraad.
Wir taxierten uns wie rivalisierende Giftschlangen. »Sie waren es!«, dämmerte es mir. »Sie selbst haben die fehlenden Seiten herausgerissen!«
Der Antiquar schnitt eine Grimasse. »Herausreißen ist ein sehr unschönes Wort, Herr Simmonis«, erklärte er mit leicht tadelndem Unterton. »Sagen wir, ich habe sie der Geschichte entnommen. Aber …« Er klappte das Buch zu und musterte mich. »… ich habe Ihnen gleichermaßen versprochen, besagtes Ende zu erfahren, sofern Sie mir mein Eigentum wohlbehalten zurückbringen. Und das haben Sie, was ich Ihnen hoch anrechne.« Er verstaute das Epistolarium dort, wo er es fünf Tage zuvor entnommen hatte, dann erhob er sich mit einem leisen Seufzen. »Wenn ich Sie bitten dürfte, mir zu folgen.«
»Folgen?«, echote ich. »Wieso lesen Sie mir die restlichen Seiten nicht einfach vor?«
»Weil ich sie damals verbrannt habe.« Van de Dageraad trat hinter seinem Refugium hervor und schlurfte zu einem Wandregal.
Ich sah ihm ungläubig nach. »Was heißt damals?«
»Anno 1813. Kommen Sie nun oder nicht?«
»Wohin?«
»Wie ich bereits sagte: Ich halte das, was sich dem Verstand unvermittelt erschließt, für die reinste Inkarnation des Göttlichen. Und was das Auge sieht, glaubt bekanntlich das Herz.«
Als van de Dageraad den vor dem Regal liegenden Läufer mit dem Fuß beiseiteschob, verrieten die Schleifspuren auf dem Holzboden, dass das Möbelstück etwas Besonderes vor den Augen der Laufkundschaft schützen musste. Ich erwartete ein Schmuckseparee oder einen Wandtresor zu erblicken und war enttäuscht, als sich dahinter keine massive Stahltür verbarg, sondern eine sehr alte, ungewöhnlich schmale Holzpforte. Der mit vier rostigen Riegeln gesicherte Zugang sah aus, als läge dahinter ein uralter Abort oder allenfalls eine Besenkammer. Durch seine Ritzen strömte just jener ekelerregend-penetrante Gestank, den ich bei meinem ersten Besuch wahrgenommen hatte.
»Was bedeutet Sachar Neshamar?«, fragte ich, als der Antiquar zuerst den dritten der vier Schließriegel öffnete.
Van de Dageraad hielt für einen Moment in der Bewegung inne. »Das fragen Sie jetzt?« Er schob kopfschüttelnd den obersten Riegel auf, dann den zweiten und schließlich den untersten. »Es ist das hebräische Wort für einen Pakt«, erklärte er. »Frei übersetzt bedeutet es ›Seelenhandel‹. Ein solcher wie der unsere wird für gewöhnlich mit Blut besiegelt.«
»Ich habe nichts dergleichen besiegelt«, stellte ich klar. »Schon gar nicht mit Blut.«
»Nun, zumindest nicht mit dem Ihren …«
Ehe ich fähig war, darauf zu reagieren, zog er die Tür mit einem Ruck auf. Der Gestank, der mir СКАЧАТЬ