Название: Das Haus Lazarus
Автор: Michael Marrak
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Memoranda
isbn: 9783948616458
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War Jerome vergangene Woche womöglich just dieses Malheur ebenfalls passiert? Ein missglückter Versuch, das seinige Boot am Abtreiben zu hindern, wobei er ausgerutscht und in diese Kloake gefallen war? Oder hatte er sich aus freien Stücken ins Brackwasser begeben, um ihm hinterherzuschwimmen?
Letzteres würde meine einzige Möglichkeit sein, diesem Ort zu entfliehen, falls die kommenden Geschehnisse mich dazu nötigen sollten. Doch ängstigte mich dabei der Gedanke an das unbekannte, aber zweifellos lebendige Ding, das den Kahn im Tunnel emporgehoben hatte. Wer konnte garantieren, dass ein zweites davon mir nicht sofort folgen würde? Es hätte mich in der engen Passage im Nu eingeholt …
Verdrossen kauerte ich mich auf halber Höhe der Treppe zusammen, versuchte so wenig helle Haut wie möglich unter meiner Kleidung hervorschauen zu lassen und harrte der Dinge, die da wohl oder übel kamen. Erst jetzt fiel mir auf, dass einige der Fensterläden nun geöffnet waren. Obwohl das Mondlicht den Hof erhellte, war jedoch nicht zu erkennen, ob sich im dahinter liegenden Dunkel der Räume jemand verborgen hielt und Zeuge meiner vermeintlich heimlichen Ankunft gewesen war.
Ich hatte noch keine zehn Minuten in meinem Versteck verbracht, da ließ mich ein leises Sprudeln aufhorchen. Vor der Zwillingstreppe an der Stirnseite des Hofes begann das Wasser zu kochen und ließ hellen Blasenschaum aufsteigen. Zumindest so lange, bis ein zäher, schwarzer, morastiger Brei emporzuquellen begann, dessen Pestilenz mich bald würgen ließ. Den Stoff meines Kleides vor Mund und Nase gepresst, verfolgte ich gebannt das Geschehen. Aus dem brodelnden Modder tauchte etwas Schauerliches auf, von dem ich zuerst glaubte, es wäre ein uralter, von sechs dicken Ästen umgebener Baumstumpf – bis das finstere Ding in der Mitte unerwartet eine Regung zeigte und sich aus seiner Kauerstellung erhob!
Meine liebe Elya, ich wünschte aus tiefster Seele, alles, was sich vor meinen Augen abspielte, wäre nur ein Produkt der Faulgase, die meinen Verstand vernebelten – aber dem war nicht so. Was ich im Mondlicht für totes, schlicktriefendes Holz gehalten hatte, war eine mönchsartig verhüllte Gestalt – und das Gebilde, auf dem sie kauerte, beileibe kein abgestorbener Baum, sondern der Handteller einer riesigen sechsfingrigen schwarzen Klaue, die den Vermummten auf den zentralen Treppenabsatz emporhob. Während sich zwischen den mächtigen Fingern Ströme der schwarzen Brühe zurück ins Wasser ergossen, wirkte das Ding, das sich in ihrer Mitte tragen ließ, in keiner Weise davon benetzt. In seinen Armen barg es einen Gegenstand, der aus der Ferne wie eine Steintafel oder eine mächtige Fibel aussah.
Nahezu gänzlich von einem Umhang verhüllt, trat die Gestalt auf den obersten Treppenabsatz, wo sie wie in tiefer Andacht verharrte. Unter der bis tief in die Stirn gezogenen Kapuze vermochte ich kaum ein Gesicht zu erkennen, nur ein seltsames längliches Gebilde, das wie ein Schnabel daraus hervorragte.
Ich weiß nicht, was mich letztlich in meinem Versteck verraten hatte. Vielleicht hatte ich unbewusst einen Laut des Entsetzens von mir gegeben, oder es war in der Kälte der Nacht mein Atem gewesen, der als Wolke im Mondlicht zu sehen gewesen war. Denn während ich die unheimliche Gestalt auf der Treppe anstarrte, wandte diese sich fast schon feierlich zu mir um, und ich vernahm eine Stimme, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dabei war sie nur ein sanftes Raunen, so leise, als wollte ihr Träger mich nicht unnötig ängstigen. Doch es war nicht ihr Klang, der mich erschaudern ließ, sondern die wenigen Worte, die sie sprach: »Es kommt der Tag, da wird ein jeder auf Erden ein Zeuge werden, Aleyd. Aber die Erleuchtete hat keinen Anfang in der Zeit. Sie war, ist und wird immer sein.«
Kaum war die Stimme verklungen, da bemerkte ich mehrere Spuren aus aufsteigenden Luftblasen, die sich mir aus der Mitte des Grachthofes langsam näherten. Die monströse schwarze Hand indes begann sich aufzurichten, bis ihre vier mittleren Finger steil in den Nachthimmel wiesen, während die beiden äußeren wie riesige stumpfe Hörner abstanden. Im Zwielicht sah ich drei, bald schon vier Paare großer, fahlgelber Augen, die sich nahe dem tiefsten Treppenabsatz dicht unter der Wasseroberfläche versammelt hatten und zu mir heraufblickten; glänzende Schimmer ohne Gesichter und ohne Körper. Und während ich schreckensstarr vor Angst ihre Blicke erwiderte, öffnete sich im Zentrum des riesigen schwarzen Handtellers ein mächtiges, orangefarben glühendes Auge und starrte mich an.
Gott, Elya, der Anblick dieses entsetzlichen schwarzen Zyklopendinges, das da nun lautlos durch das Wasser auf mich zuglitt, schnürte mir die Kehle zu. Dabei wuchs es höher und höher empor, bis es die ——
*****
Hier endete der erhaltene Teil des Epistolariums – und ließ mich fassungslos und innerlich aufgewühlt, ja fast schon wütend ob der Ungewissheit um das Schicksal der Verfasserin zurück. Es war, als wäre ich gegen eine unsichtbare Wand gerannt, von der ich von Anfang an gewusst hatte, dass sie existierte. Eine Wand, die zwar nicht den Blick auf das Dahinter verwehrte, aber dennoch das jähe und absolute Ende markierte.
Aleyd hatte das albtraumhafte Ereignis überlebt, so viel war sicher, denn wie hätte sie sonst diesen letzten Brief an jenen geheimnisvollen Empfänger niederschreiben können? Doch die Umstände, unter denen sie dazu in der Lage gewesen sein konnte angesichts der unverhohlenen Bedrohung, der sie ausgeliefert gewesen war, blieben im Ungewissen.
Ich strich mit den Fingerkuppen über die Reste der herausgerissenen Seiten. Nur der heftige, seit Stunden andauernde Regen hielt mich an diesem Abend davon ab, mich im historischen Fischerviertel auf die Suche nach jenem Ort zu begeben, den Aleyd – sofern alles der Wahrheit entsprach – in einer für eine Frau ihrer Zeit und ihres Standes so drastischen Weise beschrieben hatte.
Gegen Vormittag des fünften Tages vermeldeten die Nachrichten, dass der angesehene Brabanter Maler und Bildhauer Isaak Melech in den Morgenstunden des gestrigen Tages tot in seinem Hotelzimmer im belgischen Genk aufgefunden worden war. Obwohl mein Informant mir nie seinen Namen genannt und sich bei unserem einzigen kurzen Treffen in Aachen hinter dickem Schal und dunkler Brille versteckt gehalten hatte, wusste ich sofort, dass er es war, dessen Dahinscheiden durch die Medien geisterte.
TABULA DEXTRA: MALEBOLGE
Ich ging den Weg, den Aleyd vor 500 Jahren genommen haben musste, vom historischen Markt aus durch die westliche Altstadt bis zum ehemaligen Jansportal, wo sie wahrscheinlich ins Boot gestiegen war. Von dort aus marschierte ich entlang des Kanals, bis dieser unweit des ehemaligen Klosters Marienburg einen Bogen von fast neunzig Grad beschrieb und unter den Reihen der ehemaligen Bordelle verschwand. Die meisten Diezegrachten waren im Laufe der Zeit aus dem Stadtbild verschwunden. Manche der noch erhaltenen schmalen Gewässer, die seinerzeit als Abwasser- und Frachtkanäle gedient hatten, wirkten, als hätte vor Jahrhunderten eine schlammig-braune Flut die Stadt heimgesucht und wäre nie wieder aus den tiefen Gassen gewichen.
Wo einst jedoch der im Süden gelegene Hauptkanal entlang der alten Stadtmauer geführt hatte, verlief heute eine rege befahrene, mit Platanen gesäumte Straße. Ich folgte ihr etwa dreihundert Meter weit in östliche Richtung, ohne auf einen offenen Überrest des Gewässers oder einen Zugang zu stoßen. Sofern im Untergrund noch Abschnitte des alten Kanals existierten, war der Grachthof, in dem sich Aleyds Schicksal erfüllt hatte, allenfalls durch die Kanalisation oder die im Untergrund fließende Altdieze erreichbar.
Als ich mich in jener Gegend wähnte, in der sich vor Jahrhunderten das in den Briefen beschriebene Areal befunden haben musste, und meinen Blick über die schmutzig grauen Häuserfassaden wandern ließ, fiel mir an einem der Gebäude ein gekipptes, vom СКАЧАТЬ