Das Anthropozän lernen und lehren. Группа авторов
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СКАЧАТЬ dekonstruiert (Milton 1996): „what we consider to be truth about the natural world is not inherently found in nature, but is a product of our own cultural frameworks” (Gibson & Venkanteswar 2015: 8). Ethnographische Forschung zeigte auf, dass das Verständnis von Natur und Gesellschaft als zwei ontologisch unterschiedliche Bereiche nicht universell ist, sondern historisch und bestimmten Gesellschaften entsprungen ist (Descola & Pálsson 1996). Diese Kritik der Natur-Kultur-Dichotomie hatte jedoch nur begrenzten Einfluss auf die Naturwissenschaften und verblieb weitgehend eine interne Debatte der Geistes- und Sozialwissenschaften.

      Diese Diskussion gewinnt nun mit dem Begriff Anthropozän an Relevanz und wird aktualisiert, auch außerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften. Aus der Sicht der Anthropologie ist das Anthropozän nicht (nur) eine geologische Tatsache, sondern auch ein Konzept, das unser Verständnis von Natur und Gesellschaft und deren Verhältnis sowohl reflektiert als auch beeinflusst (Kersten 2013). Als solches stellt das Anthropozän einerseits eine „opportunity to break down Westernized dichotomies of culture/nature“ dar (Gibson & Venkateswar 2015: 11). Die theoretische Konsequenz der Benennung der derzeitigen geologischen Epoche als „Anthropozän“ ist die Anerkennung, dass Natur nicht mehr ohne den Menschen verstanden werden kann: „In the Anthropocene, nature is no longer what conventional science imagined it to be” (Haraway et al. 2016: 535). Den Menschen als die unsere Epoche definierende „Naturgewalt“ anzuerkennen, impliziert die Verwischung der Grenzen zwischen Natur und Gesellschaft (Chua & Fair 2019).

      Andererseits kann das Konzept Anthropozän durch den Fokus auf Anthropos auch ebendiese Dichotomie verfestigen: „The underlying implications of the name ‘Anthropocene’ is reflective of the self-appointed dominant place humans hold above all other life on Earth” (Gibson & Venkateswar 2015: 6). Das Konzept Anthropozän situiert den Menschen als die definierende Kraft dieser geologischen Epoche: „the very idea of the Anthropocene places the ‘human agency’ […] smack in the center of attention“ (Latour 2017: 37). Ein einseitiger Fokus auf Anthropos läuft jedoch die Gefahr, andere Spezien und deren Rolle in der Gestaltung der Erde zu ignorieren (Haraway et al. 2016: 539). In der Anthropologie inspiriert die kritische Auseinandersetzung mit dem Anthropozän unter anderem sogenannte „more-than-human“ und „multispecies“ Ethnographien, die versuchen, nicht-menschliche Entitäten in die Studie des menschlichen Handelns miteinzubeziehen (Kirksey & Helmreich 2010). AnthropologInnen betonen des Weiteren dass menschliches Handeln nicht undifferenziert und universell ist. Unterschiedliche Lebensformen bringen unterschiedliche Mensch-Umwelt-Beziehungen hervor. Die „Naturgewalt“ Anthropos ist demnach keine einheitliche Entität, sondern bestimmte menschliche Konfigurationen tragen die Verantwortlichkeit für die ökologischen Krisen des Anthropozäns. Dies wirft die Frage der Verantwortung, der Responsibility, auf, aber auch die der Response ability (Haraway 2015): Welche menschlichen Lebensweisen produzieren das Anthropozän, welche leiden darunter, und wie können Menschen mit Umweltveränderungen umgehen? Haraway (2015) argumentiert in diesem Zusammenhang, dass der Begriff „Kapitalozän“ treffender wäre, da er impliziert, dass nicht alle Gesellschaftsformen, sondern hauptsächlich das kapitalistische System die Natur nachhaltig modifiziert. Diese Perspektiven betonen, dass das Anthropozän ein Resultat historischer und globaler Ungleichheiten ist (Chua & Fair 2019) und dass Anthropos kein passiver Akteur, sondern ein moralisches und politisches Wesen ist, das für seine Handlungen Verantwortung trägt (Latour 2017: 39).

      Aus der Sicht der Anthropologie ist das Anthropozän also ein paradoxes Konzept, das sowohl dem Menschen eine dominante Rolle gegenüber der Umwelt zuschreibt und somit den Menschen konzeptuell von der Natur abgrenzt, als auch die Möglichkeit birgt, ebendiese konzeptuelle Trennung zwischen Gesellschaft und Natur aufzulösen.

      Fallbeispiel: Svalbard im Anthropozän

      Svalbard ist eine norwegische Inselgruppe in der hohen Arktis und in vielerlei Hinsicht ein Ort, an dem die menschliche Modifikation der Umwelt besonders sichtbar wird. Spitzbergen, die größte Insel des Archipels, kann als „anthropozäne Insel“ (Pugh 2018) bezeichnet werden, eine Insel „humbled within the vast multidimensional forces of a rapidly changing planet” (Pugh 2018: 96). Während Svalbard oft als „unberührte Natur“ dargestellt wird, als „one of the world’s best-managed wilderness areas“ (Ministry of Justice and Public Security 2015–2016: 56), ist es gleichzeitig einer der Orte in der Welt, an dem die anthropogen verursachten Klimaveränderungen am stärksten ausgeprägt sind. Die Inselgruppe hat in den letzten 50 Jahren eine extreme Temperatursteigerung erlebt, was zu umfassenden Umweltveränderungen führt (Hanssen-Bauer et al. 2019; Norsk Klimaservicesenter 2019). Das Meereseis um Svalbard ist markant zurückgegangen, es gibt öfters extreme Wetterereignisse, und es regnet stärker und öfter im Winter. ForscherInnen prognostizieren ein wärmeres und nasseres Klima auf Svalbard in Zukunft. Dies führt zu Permafrost-Tau (eine tiefere aktive Schicht, d.h. die Schicht, die im Sommer auftaut), Fluten, Küsten- und Flussbetterosion. Mehr Schnee- und Schlammlawinen werden erwartet. Eine tiefere aktive Schicht des Permafrostbodens in Kombination mit mehr Regen führt zu instabilen Hängen, mit erhöhter Erdrutschgefahr. Svalbards scheinbar „unberührte Natur“ wird also vom Menschen – durch anthropogen verursachten Klimawandel – stark modifiziert, und diese klimabedingten Umweltveränderungen beeinflussen wiederum das menschliche Leben auf der Inselgruppe. Die Grenzen zwischen „Natur“ und „Gesellschaft“ verschwimmen, und es wird zunehmend unmöglich, die „lokale“ und die „globale“ Umwelt auseinanderzuhalten.

      Während der Klimawandel in vielen Teilen der Arktis indigene Lebensformen beeinträchtigt, die für ihre teilweise auf Subsistenz beruhende Wirtschaft stark auf Naturressourcen und Umweltbedingungen wie Meereis angewiesen sind, ist Longyearbyen, die größte Siedlung Svalbards, eine nicht-indigene, hoch-industrialisierte Gesellschaft, die sich inmitten einer Umstellung von einer auf Kohleminenindustrie beruhenden Wirtschaft zu einer post-industriellen Ökonomie basierend auf Tourismus, Forschung und Serviceindustrie befindet. Der Klimawandel bedroht also nicht grundlegend die Lebensweise und Subsistenz der in Longyearbyen lebenden Menschen, bringt jedoch neue Herausforderungen, aber auch neue Möglichkeiten, in Bezug auf die gebaute Umwelt, Mobilität, Tourismus und Forschung.

      Auffassungen des Klimawandels in Longyearbyen

      Die in Longyearbyen lebenden Menschen erleben und beobachten, dass die Natur, das harte Klima und die kalten Winter, was für viele ein Grund ist, um nach Svalbard zu ziehen, sich verändern. In der Klimaanthropologie werden zunehmend lokale Beobachtungen komplementär zu Klimadaten herangezogen, um Umweltveränderungen und ihre Auswirkungen auf die Menschen zu dokumentieren (Krupnik & Jolly 2010; Savo et al. 2016). Während in indigenen Gesellschaften dadurch weit zurückgehende Datenreihen erstellt werden können, ist Longyearbyen eine Stadt mit relativ kurzer Erinnerung. Nur ca. 500 Personen von den insgesamt 2400 EinwohnerInnen leben seit mehr als zehn Jahren auf Svalbard, und nur 130 seit länger als 20 Jahren. Die Fluktuation in der Bevölkerung ist extrem hoch: Ca. 20 Prozent der Bevölkerung werden jedes Jahr ausgetauscht (Statistisk Sentralbyrå 2016: 11). Somit haben nur die wenigsten lange genug dort gelebt, um die Veränderungen über einen längeren Zeitraum beobachten zu können. Trotzdem berichten viele von Umweltveränderungen. Die „Svalbardveterane“ erzählen, wie Gletscher sich zurückgezogen haben und die Winter wärmer und nässer geworden sind. Eine Veränderung, über die oft gesprochen wird, ist der Rückgang des Meereises. Der Isfjord („Eisfjord“), das große Fjordsystem, in dem sich Longyearbyen befindet, war seit dem Winter 2004/2005 nicht mehr zugefroren (dieses Jahr könnte es zum ersten Mal seit 15 Jahren wieder zufrieren [UNIS 2020]). Für die Lokalbevölkerung war der zugefrorene Fjord vor allem für ihre Mobilität und Freizeitaktivitäten von Bedeutung: Sie konnten mit dem Schneemobil den Fjord entlang fahren und überqueren, was die Fahrten unkomplizierter und die Abstände deutlich kürzer machten. Diejenigen, die lange genug in Longyearbyen leben, um das erlebt zu haben, erinnern sich gerne an diese Zeit zurück und erzählen nostalgisch von legendären Ausflügen mit perfekten Schneemobilbedingungen.

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