Название: Landsby
Автор: Christine Millman
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Landsby
isbn: 9783947634927
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Träge setze ich mich in Bewegung, verlasse das Gelände und laufe zum Marktplatz, der heute glücklicherweise geschlossen ist. Einen Menschenauflauf kann ich nicht gebrauchen. Eigentlich will ich mich mit Manja treffen, doch der Wunsch, alleine zu sein um meine Gedanken zu ordnen führt mich in die entgegengesetzte Richtung zum Fluss. Auf der alten Schnellstraße spaziert nur selten jemand herum, weil der Asphalt an vielen Stellen aufgeworfen und mit trockenen Wüstengrasbüscheln bewachsen ist, und so habe ich das Ufer dahinter ganz für mich alleine. Ziellos arbeite ich mich durch Sand, Steine und Gestrüpp. Am alten Bootssteg halte ich inne. Vorsichtig balanciere ich über die morschen Bretter, setze mich an den Rand und ziehe die Sandalen aus. Das kühle Wasser umschmeichelt meine Füße. Die Mittagssonne brennt auf meinen Nacken und treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Ich stoße einen Seufzer aus, nehme den Vertrag hoch und beginne zu lesen.
Auf dem Deckblatt ist eine Rede des Ratsvorsitzenden abgedruckt, in der er mir zu meiner Entscheidung gratuliert und betont, wie heldenhaft und wichtig mein Einsatz für den Erhalt der Kolonie ist. Die zweite Seite befasst sich mit den Vorteilen und Privilegien, die eine Teilnahme am Programm mit sich bringen. Lebenslanges Bleiberecht, medizinische Versorgung und extra Essensrationen für die Angehörigen. Beruflicher Aufstieg. Ansehen. Geld. Erst auf der dritten Seite beginnen die Regeln.
Den Teilnehmern des Reproduktionsprogramms ist der Kontakt zu Familie und Freunden untersagt, bis das Programm beendet ist.
Das ist allgemein bekannt, es schwarz auf weiß zu lesen versetzt mir dennoch einen Stich. In meinen Augen ist das eine bescheuerte Regel. Was hat es für einen Sinn, die Probanden von ihren Liebsten zu trennen? Verstärkt das nicht das Gefühl der Einsamkeit?
Ich lese weiter.
Es ist verboten, über die Untersuchungen und Eingriffe mit Außenstehenden und anderen Probanden zu sprechen. Der Proband darf sich keinen schädigenden Einflüssen aussetzen, das beinhaltet Drogen, Alkohol und den Verzehr von giftigen Substanzen.
Adieu Zauberpilze.
Mit erfolgreicher Implantation eines Embryos verpflichtet sich der Proband zu regelmäßigen Kontrolluntersuchungen, inklusive Bluttests und den vom medizinischen Personal für nötig befundenen Eingriffen. Bei Misserfolg verpflichtet sich der Proband zu mindestens vier Implantationen im Jahr über einen Zeitraum von zehn Jahren.
Ich lasse den Vertrag sinken. Die Regeln überraschen mich nicht, aber sie geben mir auch nicht gerade das Gefühl zu einer Heldin zu werden. Eher zu einer Zuchtstute. Ich habe mir immer vorgestellt, eine gut bezahlte Anstellung und einen Freund zu finden und mit ihm in ein eigenes Zuhause zu ziehen, in eine Wohnung mit fließendem Wasser und einem Ofen. Weg von meinem Vater. Kinder kommen in dieser Planung gar nicht vor.
Auf der vierten Seite wird der Ablauf erklärt. Mir schwirrt der Kopf von Worten wie Zyklusbestimmung, hormonelle Stimulation der Eierstöcke, Eizellenentnahme, Kryokonservierung und Insemination. Zum Schluss kommt ein kurzer Abschnitt über genetische Aufarbeitung embryonaler Stammzellen, den ich nicht kapiere. Für mich klingt es, als würden sie an den Embryonen herumpfuschen. Sie verändern. Aber warum sollten sie das tun? Wegen des MM-Virus? Um die Gefahr von Mutationen zu verringern? Vergeblich suche ich Informationen über die Risiken.
Auf der Rückseite des letzten Blattes entdecke ich eine Erklärung, die ich gesondert unterzeichnen soll. Mit meiner Unterschrift trete ich alle Ansprüche auf die Kinder ab, die ich durch die künstliche Befruchtung gebäre. Niemals werde ich ihnen eine Mutter sein, weder erfahre ich, wo sie sind, noch was mit ihnen passiert. Wer zieht sie groß? Wo wohnen sie?
Ich lasse das Blatt sinken. Meine Hände zittern. Tausend Fragen purzeln in meinem Kopf herum. Allen voran die Frage, ob ich nicht lieber abhauen soll. Kann ich zehn Jahre oder länger in einem Gefängnis leben? Abgeschottet von der Welt? Andauernd auf irgendeinem Untersuchungstisch liegend, wo Mediziner versuchen, mir einen lebensfähigen Embryo einzupflanzen? Wie kann mein Vater das nur von mir verlangen? Gibt es nicht genug Freiwillige, die nach Ruhm und Ehre und materiellen Gütern lechzen?
Den gesamten Nachmittag sitze ich da und starre auf das Wasser, beobachte, wie die Wellen über das Ufer schwappen. Das leise Platschen beruhigt mich und macht mich zugleich traurig. Den Fluss werde ich ebenso wenig zu Gesicht bekommen wie meine Freunde. Ich sollte stolz sein und mich freuen über den Beitrag, den ich leisten kann, doch viel lieber würde ich heulen und mich irgendwo verkriechen.
Als ich in der Ferne ein Boot erblicke, das aus einer der anderen Kolonien kommt, erhebe ich mich und gehe nach Hause. Vater wartet bereits auf mich. Sobald ich die Tür öffne, springt er auf und eilt mir entgegen.
»Jule, endlich. Ich hab mir schon Sorgen gemacht. Wie ist es gelaufen?«
»Gut«, lautet meine einsilbige Antwort. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, schiebe ich mich an ihm vorbei. Ich glaube ihm nicht, dass er nicht weiß, wie es gelaufen ist. Sicher hat er seine Spitzel. Oberst Weiß oder die Soldaten vor der Tür.
»Jule.« Er fasst nach meinem Arm und hält mich fest. »Nun lauf doch nicht weg.«
Ich merke, wie mir die Tränen in die Augen schießen. Den ganzen Nachmittag habe ich darauf gewartet und jetzt, wo ich die Heulerei gar nicht gebrauchen kann, fängt es an. Verdammt.
Energisch reiße ich mich los. »Bestimmt bekommst du einen Bonus für jede erfolgreiche Schwangerschaft oder eine Beförderung.« Meine Worte sollen sarkastisch klingen, doch der weinerliche Unterton ist deutlich herauszuhören. Das ärgert mich.
»Jule, bitte. Hör auf damit!«
Ich fahre herum und blitze ihn zornig an. Eine Träne stiehlt sich aus meinem Auge, vielleicht auch zwei. »Womit denn?«
»Mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Ich tue, was getan werden muss. Für uns. Für die Kolonie. Warum siehst du nicht, welche Ehre es ist, dem Wohl der Gemeinschaft zu dienen?«
Ich habe keine Lust, über das verdammte Wohl der Kolonie zu diskutieren, das ist mir nämlich völlig egal. Ich will ihm auch nicht erklären, wie sehr es schmerzt, dass er mich verhökert wie einen Sack Kartoffeln. Zum Wohle der Kolonie, das ich nicht lache. Ihm geht es doch nur um seine Karriere. Wenn seine Tochter eine Handvoll gesunder, kräftiger Säuglinge zur Welt bringt, kommt das bei der Führungsspitze bestimmt gut an.
»Ich will keine Scheiß Gebärmaschine sein«, brülle ich, »und die Kolonie ist mir schon lange scheißegal.«
Ich schüttle seine Hand ab, stürme in mein Zimmer und knalle die Tür zu. Schluchzend werfe ich mich aufs Bett und schluchze ich in mein Kissen, bis es überall nasse Flecken hat.
Eine Stunde später, ich habe noch immer nicht aufgehört zu weinen, klopft es an der Tür. »Jule?«
Manja. Ich ziehe die Nase hoch und trockne meine Wangen mit dem Handrücken. Meine Augen fühlen sich geschwollen an und brennen. Bestimmt sehe ich total verheult aus. »Was willst du hier?«
Sie öffnet die Tür und mustert mich kurz, verliert aber kein Wort über meinen Zustand. »Komm. Wir gehen zum Wasserturm.«
Paul hat Schmalzbrote mitgebracht und Manja eine Handvoll Zauberpilze. Wir sitzen auf dem Wasserturm und lassen die nackten Füße baumeln.
»Scheiße Jule«, sagt Manja zum gefühlt hundertsten Mal. Sie kann es nicht fassen, dass ich am Programm teilnehmen СКАЧАТЬ