Название: Schattengeister
Автор: Frances Hardinge
Издательство: Bookwire
Жанр: Книги для детей: прочее
isbn: 9783772541445
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Sie verstummte.
«Du kannst es auch sehen, nicht wahr?», flüsterte James. Er wirkte verblüfft und erleichtert zugleich.
Makepeace zögerte und blickte ihm ins Gesicht. Sie fragte sich plötzlich, ob das eine Art Prüfung war, die sich Obadiah ausgedacht hatte. Wenn sie jetzt etwas Respektloses sagte, würde James sie vielleicht melden, und vielleicht würde man sie dann wegschicken oder wieder im Vogelzimmer anketten.
Menschen konnte man nicht vertrauen. Hunde knurrten, bevor sie zubissen, aber Menschen nicht. Menschen lächelten.
James hatte ein sonnenverbranntes Gesicht und weit auseinanderstehende Augen. Aber was ihr besonders auffiel, waren seine Hände mit den verschorften Knöcheln. Es waren die Hände einer sorglosen, rücksichtslosen Person, eines Raufbolds, aber es waren ehrliche Hände. Ihr Anblick entschied die Sache zu seinen Gunsten. Makepeace beschloss, ein Körnchen Vertrauen in die Waagschale zu werfen.
«Ich weiß auch nicht, was es bedeutet», flüsterte sie, «aber an ihm ist irgendetwas …»
«… falsch», beendete James ihren Satz.
«Es fühlt sich an wie … wenn ich ihm in die Augen schaue … wie die toten Wesen in meinen Albträumen.»
«Ich weiß.»
«Aber er ist lebendig!»
«Ja. Und trotzdem kriegst du eine Gänsehaut und dir kribbeln die Finger, nicht wahr? Niemand sonst sieht es, nur wir beide, oder wenn sie es sehen, dann reden sie nicht darüber. Und …», James beugte sich vor und wisperte ihr ins Ohr, «Obadiah ist nicht der Einzige. Alle älteren Fellmottes sind so wie er.»
«Sir Thomas nicht!», widersprach Makepeace, die sich an die hellen braunen Augen des Mannes erinnerte.
«Nein, noch nicht», sagte James ernst. «Sie sind nicht von Anfang an so. Erst wenn sie ihr Erbe antreten und Land und Titel übernehmen, dann passiert etwas. Sie verändern sich. Es ist, als ob ihr Blut über Nacht kalt wird. Auch andere Menschen merken, dass etwas anders ist. Die Diener nennen sie nur die ‹Elder›, die klugen Alten. Sie sind zu flink, sie sind zu clever. Sie wissen zu viel, was sie nicht wissen sollten. Und man kann sie nicht anlügen. Sie durchschauen dich sofort.
Deshalb müssen wir weg! Dieses Haus ist … eine Brutstätte für Teufel! Wir sind keine Diener, wir sind Gefangene! Und sie sagen uns nicht einmal, warum!»
Makepeace kaute auf ihrer Unterlippe, hin und her gerissen von ihrer Unsicherheit. Sie konnte ihrem Instinkt vertrauen, irgendetwas war mit Obadiah. Mutter war aus Grizehayes geflohen und hatte alle erdenklichen Mühen auf sich genommen, damit die Fellmottes sie nicht aufspürten. Und sie musste auch an Bär denken – Bär, der aus ihr herausgerissen und vernichtet werden würde, wenn Obadiah herausfand, dass er hier war.
Aber all das waren nur vage Schrecken. Die Angst, angekettet und geschlagen oder hinaus in die Wildnis gejagt zu werden, wo Hunger und wahnsinnige Geister auf sie warteten, war so greifbar, dass sie glaubte, sie anfassen zu können. Und tief in ihr lauerte auch noch jener quälende Gedanke, dass vielleicht Mutters zerfetzter Geist immer noch jenseits der schützenden Mauern von Grizehayes herumirrte und nach ihr suchte. Die Vorstellung war gleißend weiß von Hoffnung und Grausen, und ihr Geist zuckte vor ihr zurück.
«Es tut mir leid», sagte Makepeace, «aber ich kann nicht mit dir weglaufen. Ich brauche ein Zuhause, und sei es auch nur dieses hier.»
«Ich mache dir keinen Vorwurf, wenn du Angst hast», sagte James freundlich. «Aber ich verwette meinen Hals darauf, dass wir hier mehr zu fürchten haben als sonst irgendwo. Ich hoffe, du änderst noch deine Meinung. Ich hoffe, du tust es bald, damit du mit mir kommen kannst.»
Makepeace war Freundlichkeit nicht gewohnt, und es war beinahe mehr, als sie ertragen konnte. Seit Mutters Tod gähnte in der Welt ein weites, quälendes Loch, und sie wünschte sich verzweifelt einen Menschen, der dieses Loch füllen konnte. Einen Augenblick lang war Makepeace in Versuchung, James von Bär zu erzählen.
Aber sie biss sich auf die Zunge, und der Augenblick verging. Dieses Geheimnis war zu groß für jemanden, den sie erst so kurz kannte. Es konnte sein, dass James sie verriet. Es konnte sein, dass er sie nicht verstand. Es konnte auch sein, dass er sich vor ihr fürchtete oder zu der Einsicht kam, dass sie doch verrückt war. Ihre Freundschaft war noch zu neu und zu zerbrechlich, und sie brauchte sie.
KAPITEL 8
Die Wochen vergingen, und Makepeace verdiente sich mit harter Arbeit und schneller Auffassungsgabe die brummige Anerkennung der zweiten Köchin. Sie stand ganz unten in der Hackordnung und war jeden Tag die Erste, die aus dem Bett war, holte Wasser und Holz, fütterte die Hühner und entfachte das Feuer. Die Arbeit war ermüdend, und die Hitze und der Rauch erschreckten Bär nach wie vor, aber sie hatte bald herausgefunden, wie man den Bratenspieß am besten drehte, wie der Bienenstock geplündert wurde, wie mit den Fettpfannen und mit dem Kesselhaken umgegangen werden musste. Sie geriet schon längst nicht mehr in Panik, wenn man ihr sagte, sie solle zum Salzkasten laufen, zum Zuckerblock oder in den Fleischkeller.
Mistress Gotely sah hin und wieder, wie Makepeace Küchenreste zusammenschabte und den Hunden brachte, die in der Küche schliefen, oder sie Soße von ihren Händen lecken ließ.
«Weichherziges kleines Mondkalb», murmelte sie und schüttelte den Kopf. «Sie fressen dir noch die Haare vom Kopf, wenn du nicht aufpasst.» Aber die Soße tat bereits ihre wohlschmeckende Wirkung, was die Loyalität der Hunde betraf. Keiner von ihnen knurrte sie mehr an. Im Gegenteil, manchmal schlief sie nachts mit ihnen zusammengekuschelt, und ihr Atem und ihre Wärme wiegten sie in einen traumlosen Schlaf. Der kleine Küchenhund lag meistens in ihren Armen.
Wie Makepeace gehofft hatte, besänftigte die Zutraulichkeit der Hunde auch Bärs Nervosität. Für ihn schienen alle Lebewesen, Mensch oder Tier, in «harmlos» und «potenziell gefährlich» unterteilt zu sein. Vertraute, harmlose Tiere duldete er in seiner Nähe. Fremde und verdächtige Kreaturen mussten mit Schnauben und Drohgebärden vertrieben werden.
Was für ein ängstliches Bärchen du doch bist, dachte Makepeace.
Das Schreibenlernen machte ihr viel mehr Schwierigkeiten. Einmal in der Woche, spät am Abend, nachdem ihr Tagwerk erledigt war, wurde sie zusammen mit James von Young Crowe unterrichtet, der während ihrer Zeit im Turmzimmer ihr Gefängniswärter gewesen war. Seinem selbstverliebten Grinsen nach zu urteilen, war er der Meinung, dass seine «Heilmethoden» bei ihr angeschlagen und sie von ihrem «Wahnsinn» kuriert hatten.
Makepeace wusste mittlerweile, dass die ganze Familie Crowe in Diensten der Fellmottes stand. Die anderen Diener gaben ihnen der Einfachheit halber Spitznamen, um sie auseinanderzuhalten. Der Vater von Young Crowe, Old Crowe, war der Verwalter von Grizehayes. Und der weißhaarige Mann, der sie in ihr neues Zuhause gebracht hatte, war – wie James ihr bereits erklärt hatte – White Crowe.
Makepeace hatte bisher nur ein M als ihr «Zeichen» geschrieben. Sie hatte schon gesehen, wie Leute lasen: Ihr Blick glitt über die Zeilen wie ein Blatt in der Strömung eines Bachs. Aber wenn sie selbst die Buchstaben anstarrte, starrten sie bloß zurück. Sie sahen aus wie platt gedrückte Insekten: flache Leiber und ausgebreitete Beine. Ihre ungeübte Hand konnte sie nicht nachzeichnen. Sie fühlte sich dumm dabei. Und es war ihren Bemühungen auch nicht gerade zuträglich, dass sie am Ende des Tages in der Regel zu müde war, um klar zu denken.
Young СКАЧАТЬ