November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts. Klaus Gietinger
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СКАЧАТЬ von Julius Martow und Lenin, die damals trotz erfolgter Spaltung der russischen Sozialdemokratie in Menschewiki und Bolschewiki noch zusammenarbeiteten, einen Resolutionsentwurf durchzubringen, der die Tür zum Massenstreik bei Kriegsgefahr offen ließ.33 Doch der Parteivorstand hatte diese Tür längst, in Übereinstimmung mit der Gewerkschaftsführung, zugeschlagen.

      Und die »Lustigen Blätter« dichteten nach Noskes Reichstags-Jungfernrede:

      »Hervé will Soldatenstreik

      Liebknecht spricht so ähnlich

      Ledebour zeigt sich dem Heer

      Auch nicht sehr versöhnlich […]

      Aber dennoch, Mut! nur Mut!

      Lasst’s euch nicht verdrießen

      Denn wir wissen absolut:

      Noske der wird schießen!«34

      Einer ging noch weiter. Der ehemals linke Gewerkschaftsführer Gustav Bauer führte im November 1913 aus: »Die Kriegsfrage ist kein prinzipielles, sondern ein taktisches Problem. Es gilt für das Proletariat der einzelnen Länder abzuwägen, ob der Krieg Vorteile bringen könne oder nicht und danach ist ihr Verhalten einzurichten.« Es gab nach Bauer nur noch zwei Formen von Kriegen: nützliche und unnütze. Krieg musste zudem vom Proletariat akzeptiert werden, weil es nicht unterscheiden konnte, wer Angreifer und Verteidiger war.

      Bauer kündigte hier den Herrschenden – er wusste, dass Spitzel im Publikum saßen – an, dass man sich auf ihn und andere SPD-Führer würde zukünftig verlassen können.35

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      Abb. 3 Rosa Luxemburg und Kostja Zetkin, ca. 1907

      Die »Schiefe Ebene«, die Rosa Luxemburg wenige Monate vorher auf dem Parteitag in Jena entdeckt hatte, eine Bahn, »auf der es keinen Halt mehr gibt«36, sollte zur Talfahrt ins Massengrab werden.

      Mit dem Tod Bebels 1913 und der Übernahme der Macht in der Partei durch den neuen Parteivorsitzenden Friedrich Ebert war der rechte Flügel um Philipp Scheidemann, Eduard David, Carl Legien, Wolfgang Heine, Carl Severing, Gustav Bauer, Wilhelm Keil und nicht zu vergessen Gustav Noske in der Überzahl. Denn Hugo Haase, der zweite Vorsitzende, hatte wenig Einfluss und kam gegen Ebert nicht an.

      Sommer 1914. Die Zeichen standen auf Krieg. Deutschland – dessen Führung das Risiko eines Weltkrieges einging und Österreich-Ungarn zum Krieg gegen Serbien drängte – schien von Russland bedroht. Das glaubten auch die führenden Sozialdemokraten. Und sie glaubten es gern, weil ihnen der Krieg endlich Anerkennung und vielleicht auch ein paar soziale Zugeständnisse der Regierung einbringen würde.37

      Man konstruierte sogar ein Verlangen von unten und sah sich »in vollster Übereinstimmung mit dem Denken und Fühlen der Massen«, wie Konrad Haenisch – ein Ex-Linksradikaler – nach seinem Rechts-Schwenk bei Kriegsbeginn behauptete.

      Doch die Proletariermassen gingen am 31. Juli gegen den Krieg auf die Straßen, zu einer Zeit, als die Führung der SPD schon mit der Reichsleitung verhandelte.

      Und ein deutsch-französischer Massenstreik hätte durchaus Aussicht auf Erfolg haben können, denn die französischen Gewerkschaften zeigten sich noch auf dem Höhepunkt der Julikrise 1914 streikbereit. Jedoch musste der französische Gewerkschaftsführer Léon Jouhaux bei einem Treffen mit dem deutschen Gewerkschaftsführer Carl Legien am 27. Juli 1914 feststellen, dass es in Deutschland keinerlei entsprechende Bereitschaft gab.38 Auch ein Aufruf Jouhaux’ an Legien zum Generalstreik vom 30. Juli 1914 blieb unbeantwortet.

      Angeblich schlug bei den deutschen Proletariermassen ab 1. August die Stimmung um. Noch 1976 zeigte sich der Historiker Manfred Scharrer überzeugt, die Arbeitermassen seien zu diesem Zeitpunkt für den Krieg gewesen und hätten die Führung zum Opportunismus getrieben.39

      Aber waren die Massen plötzlich von einem Tag auf den anderen kriegsbegeistert geworden? Nicht nur Richard Müller40 oder die DDR-Historiker41, sondern auch neuere Forschungen stellen dies in Zweifel.42 Weder eine große Kriegsbegeisterung noch eine totale Gegnerschaft zum Krieg ist im August 1914 feststellbar.

      Ersteres ist später von führenden Parteigenossen einfach herbeiphantasiert worden. Mehrheitlich herrschte nach dem 1. August bei den Arbeitern eher Niedergeschlagenheit. Man war enttäuscht von der Parteiführung.43 Und wer von den Arbeitern einrückte, tat das ohne Begeisterung. »Alle haben das Gefühl, es geht direkt zur Schlachtbank.«44

      Wenn aber Niedergeschlagenheit vorherrschte, hätte eine konsequente Kriegsgegnerschaft der Führung auch die Masse der Arbeiter gegen den Kriegstaumel immun gemacht, ja für Gegenaktionen geöffnet:

      »Die Massen, Unorganisierte und besonders Organisierte, hätten Mut bekommen, hätten den Krieg besser durchschaut und hätten das getan, was man ihnen heute in Deutschland vorwirft, und was sie leider nicht getan haben: sie hätten die Front erdolcht.«45

      Das wollte die Führung schlicht und einfach nicht.

      Während das Ultimatum an das neutrale Belgien zwecks Durchmarsch Richtung Paris längst vorbereitet war – denn so sah der deutsche »Verteidigungskrieg« gegen Russland tatsächlich aus –, ermahnte Reichskanzler Bethmann Hollweg die SPDFührer zur Mäßigung. Man solle den Kriegsgegner nicht provozieren. Und die Sozialdemokraten, gebauchpinselt von der Audienz beim Reichskanzler, versicherten, endlich anerkannt, »gerade aus dem Wunsch heraus, dem Frieden zu dienen«, dass keine Streikaktionen oder ähnliches geplant seien.46

      Die Führer der ehemals revolutionären Partei ließen sich nur zu gerne hinters Licht führen.

      Schließlich stimmte man am 4. August 1914 den Kriegskrediten zu, schaffte es sogar, die widerstrebenden Linken (darunter Karl Liebknecht) per Fraktionsdisziplin zur Zustimmung zu zwingen. Rosa Luxemburg »wurde von konvulsivischen Wein- und Wutkrämpfen geschüttelt«.47 Selbst Lenin im Schweizer Exil hielt die Nachricht für das, was man heute als Fake-News bezeichnet.48

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      Abb. 4 August 1914: Kaiser Wilhelm II. auf dem Balkon des Stadtschlosses verkündet den Krieg

      Krieg

      »Heute weht die deutsche Flagge auf den Türmen Antwerpens, hoffentlich für immer«, schrieb der Courier, Organ der Transportarbeitergewerkschaft im Oktober 1914.49

      Die Begeisterung, die bei Beginn des Ersten Weltkrieges durch viele Schichten in Deutschland fegte, erfasste nun endgültig zahlreiche Kader der SPD: »Mit eherner Entschlossenheit, bereit zu allen Opfern an Gut und Blut, voll Vertrauen zu den berufenen Führern, steht das deutsche Volk einig und geschlossen, ohne Unterschied der Partei, in lückenloser Schlachtreihe, um den aufgezwungenen Kampf gegen übermächtige Gegner abzuwehren.«50 So stand es in Gustav Bauers Zeitschrift Der Bureau-Angestellte Mitte August 1914.

      Carl Legien, der Vorsitzende der Generalkommission der Gewerkschaften, kannte nicht nur keine Parteien, sondern auch keine Demokratie mehr: »Wie die Dinge liegen, hört die Demokratie in den Gewerkschaften auf, jetzt haben СКАЧАТЬ