Название: November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts
Автор: Klaus Gietinger
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783960540762
isbn:
Selbst die sogenannte friedliche Revolution von 1989/9010, die – sieht man sich die Tausenden von zusätzlichen Kfz-Toten auf der Straße an – gar nicht so unblutig war11, wird nur als Wende bezeichnet.
Und die deutsche Revolution von 1918, die die entscheidende des 20. Jahrhunderts hätte werden können, war zu ihrem 90. Jahrestag 2008 praktisch vergessen. Keine Doku, kein Doku-Drama, keine Talkshow und kein Nico-Hoffmann-Melodram dazu.
Dabei war diese Revolution tatsächlich ein Aufbruch. Ein Aufbruch nach dem bis dahin schrecklichsten Krieg der Menschheitsgeschichte. Ein Aufbäumen gegen eine Herrschaft, die diesen Krieg wesentlich verursacht hatte. Die herrschenden Klassen in Deutschland: die Reichsregierung, der Kaiser, der Adel, die Schlotbarone, die Junker, nicht zu vergessen die moderne Bourgeoisie der Chemie- und Elektroindustrie und die Militärs sowie die technische Intelligenz und fast alle Kulturschaffenden mit Einfluss. Fatal an der Sache war, dass die leitenden Männer der Arbeiterbürokratie, die Führer der SPD und der Gewerkschaften, diesen Krieg bis zum Schluss mitgetragen hatten und bis zum Schluss tragen wollten. Friedrich Ebert, der Parteivorsitzende, soll in Tränen ausgebrochen sein, als er im Oktober 1918 erfuhr, dass der Weltkrieg für das Deutsche Reich verloren war. Der Krieg hatte die Arbeiterbewegung gespalten, und genau diese Spaltung war der Todesstoß für die Novemberrevolution. Die einen wollten der Herrschaft, die diesen Krieg wesentlich verursacht hatte, die Rechnung präsentieren – dies waren die Massen. Die anderen, die Arbeiterbürokraten, die mit ihrem Apparat großen Einfluss in den Betrieben und in der Gewerkschaftsbasis hatten, wollten genau dieses mit einem Bündnis mit jener Herrschaft, insbesondere den Militärs, verhindern. Die russische Oktoberrevolution von 1917 war für beide dabei ein merkwürdiger Fixpunkt. Für die Arbeitermassen in Deutschland hatten die Räte, die 1905 in der ersten – gescheiterten – russischen Revolution entstanden waren und die sich schon im Februar 1917 in großer Zahl spontan erneut gebildet hatten, Vorbildcharakter. Sie wollten nach dem großen Völkerschlachten zuallererst Frieden, ein besseres Leben und erhofften sich dies von der Demokratie, der Sozialisierung und der Zerschlagung des Militarismus. Die Arbeiterbürokratie, die SPD-Führung wie die Gewerkschaftsspitzen, fürchtete sich nicht nur vor dem totalen Umsturz, vor der Umwertung aller Werte, dem radikalen Ende der jetzigen Militär-, Junker-, Kartell- und Bourgeoisieherrschaft in Deutschland, mit der sie sich so komfortabel arrangiert hatten, sondern sie fürchteten sich vor den eigenen Massen, denen sie, als autoritäre Charaktere, Emanzipation absprachen. Massen, die sie mittels der »Heerstraße der parlamentarischen Beratung«12 regieren wollten, damit diese alternativlos nur eines wählten: Kapitalismus mit sozialer Garnitur. Als die arbeitenden Massen mehr wollten, kam es innerhalb weniger Wochen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen der SPD-geführten Regierung mit großen Teilen ihrer (inzwischen ehemaligen) Anhänger. Der Terror der Bolschewiki machte der SPD-Führung Angst und war gleichzeitig willkommener Vorwand, um selbst blutigen Massenterror gegen die sich aus Enttäuschung über ihre Führer radikalisierenden Massen zu organisieren. Die Dynamik des November 1918 weist dabei weit über diesen Monat (und Deutschland) hinaus.
Diese Revolution hat zwei entscheidende Phasen, Phasen der Radikalisierung. Nach dem Frühling kommt gleich der Herbst. Einen Sommer gibt es hier nicht (und auch deswegen ist diese Revolution vergessen). Die erste Phase reicht vom November 1918 bis Januar 1919 – sie enthält einen kurzen Frühling Anfang November, aber schon Anfang Dezember beginnt der Herbst, und spätestens im Januar formiert sich massiv die Gegenrevolution. Die zweite Phase beginnt im Februar 1919, ein zweiter Frühling, eine zweite Revolution scheint möglich, doch umso schlimmer wird der zweite Herbst, der zur gleichen Zeit die zweite Revolution überlagert und buchstäblich im Massenterror tötet. Dies geht bis zum Mai 1919. Ein dritter Frühling nach einem konterrevolutionären Putsch, dem Kapp-Putsch 1920, führt erneut zu Massakern, Massakern der von den Massen geretteten Regierung an diesen Massen.
Wir haben es bei diesem verpassten Frühling, wie gesagt, mit zwei Bewegungen zu tun. Zum einen die der radikaldemokratischen Massenbewegung gegen den Krieg hin zur sozialistischen Massenbewegung: die Rätebewegung. Und die der arbeiterbürokratischen Unterstützer des Krieges, die über die Zusammenarbeit mit den alten militärischen Mächten und aufgrund abbröckelnder Wählerschaft schließlich zum Staatsterror schritten.
Dies geschah unter dem Beifall der alten herrschenden Eliten, der neuen und alten Kapitalisten, der Junker, des Adels, des Bürgertums, des Kleinbürgertums, fast der ganzen, auch der alten sozialdemokratischen Presse, der Liberalen, großen Teilen der konservativen Intellektuellen und – eher widerstrebend – Teilen der eigenen SPD-Anhänger, eben all jener, die das mythische »Augusterlebnis« des Kriegseintritts 1914 kurzzeitig zu einer Weltkriegsaggressionseinheit, ja Welteroberungsgemeinschaft zusammengeschweißt hatte. Nur noch Deutsche. Man könnte es auch als »zweites Augusterlebnis« oder als »Frühjahr der Konterrevolution« bezeichnen. Die nationale Erhebung einer radikalen Volksgemeinschaft, deren militärischer Arm die neuen Freikorps aus alten und neuen uniformierten Kampfmaschinen bildeten, die einen Terror produzierte, den es bis dahin im Innern des Deutschen Reiches nicht gegeben hatte und der den Grund bereitete für die 14 Jahre später folgende Naziherrschaft.
Das unmittelbare Ergebnis war die Weimarer Republik, eine ungeliebte, verkorkste parlamentarische Demokratie mit verkorkster Verfassung sowie auf Rache sinnende Herrschende in Wirtschaft, Verwaltung und Militär, die den selbstverschuldeten verlorenen Krieg ihren zeitweiligen Verbündeten in den Arbeiterbürokratien gekonnt anlasteten und auf eine neue Diktatur mit neuer militärischer Weltmacht und Krieg hinsteuerten. Die angebliche Schmach von Versailles 1919 tat ihre Wirkung bis weit in die linken Parteien hinein.
Das Scheitern der Novemberrevolution 1918/19 als basisdemokratischer Revolution der Massen ist historisch zwar keine hinreichende Bedingung für Nazideutschland, Holocaust und Zweiten Weltkrieg gewesen, aber eine notwendige. Dabei hätte alles anders kommen können.
Kurze Geschichte der Geschichte der Novemberrevolution
Der 100. Jahrestag dieser Revolution wird hoffentlich eines bewirken: sie dem Vergessen zu entreißen. Denn die Novemberrevolution 1918 ist der vergessene Frühling des 20. Jahrhunderts. Das Vernichtungswerk der Nazis, das sich immer auf diese Revolution bezog, der Hitler-Putsch im November 1923, mehr noch der November 1938 mit dem staatlich organisierten deutschlandweiten Judenpogrom und dem folgenden Massenmord schaffte es, die erste erfolgreiche Demokratiebewegung in diesem Land aus der Erinnerung der Deutschen zu tilgen. Obendrein – was für ein Zufall – tat der November 1989 mit dem Ende der DDR, der letzten Ausgeburt des verpassten Frühlings, ein Übriges.
Was die Beurteilung der deutschen Revolution von 1918/19 durch Historiker angeht, gibt es seit Ende des Zweiten Weltkrieges im Westen und dann in der vereinten Republik auch zwei Strömungen, die sich immer wieder abwechseln, von denen die eine immer wieder alte Kamellen anbietet, die andere immer wieder Neues hervorbringt, auch wenn sie partiell Täuschungen unterlegen sein sollte.13
In der BRD gewann in den 50er Jahren die These von der Abwehr des Bolschewismus durch die SPD-Führer die Oberhand. Sie stützte sich auf alte Mythen, die im Bürgertum und der Sozialdemokratie kursierten, seit Wladimir Iljitsch Lenin und die Bolschewiki die Duma, das russische Parlament, vertrieben hatten und ihre Herrschaft mit Terror festigten.
Vorherrschend war die weit verbreitete Ansicht, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die revolutionären Massen, die USPD und die KPD, alle unter dem Begriff »Spartakisten« über einen Kamm geschoren, wollten in Deutschland eine Herrschaft wie Lenin und Trotzki und später Stalin in Russland errichten. Dies wurde noch verfestigt durch die DDR-Geschichtsschreibung, welche den Einfluss von Spartakus und KPD stark übertrieb.
Doch schon Ende der 50er Jahre entdeckten jüngere Historiker wie Peter van Oertzen, Eberhard Kolb СКАЧАТЬ