Название: November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts
Автор: Klaus Gietinger
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783960540762
isbn:
Karl Heinz Roth, im November 2017
»Wenn die Wahlkampfstrategen der CDU/CSU die SPD jetzt auch nur in die Nähe von Gewalttätern rücken, verletzen sie damit die Ehre einer Partei, deren Mitglieder in ihrer über 150-jährigen Geschichte immer von links- und rechtsaußen bedroht, verfolgt und umgebracht wurden. Die SPD ist die einzige Partei in Deutschland, die keine Belehrungen im Kampf gegen Terroristen braucht – egal, ob sie von links oder rechts kommen.«
Sigmar Gabriel, Außenminister der BRD, am 11. Juli 2017, nach dem G20-Gipfel in Hamburg
Einleitung
»Und die Vereinigung, zu der die Bürger des Mittelalters mit ihren Vizinalwegen Jahrhunderte bedurften, bringen die modernen Proletarier mit den Eisenbahnen in wenigen Jahren zustande.«1 Die Prophezeiung von Karl Marx und Friedrich Engels, 1848 im Kommunistischen Manifest mit Chuzpe verkündet, erfüllte sich zu ihren Lebzeiten nicht. Weder im selben Jahr des ersten deutschen bürgerlichen Revolutionsversuches noch später. Im Gegenteil, die Eisenbahn wurde entscheidend für die Planung eines Weltkrieges. Die deutsche Militärführung und die deutsche Reichsleitung sahen 1914 in der Eisenbahn das wichtigste Mittel, um einen Angriffskrieg zu gewinnen, von dem sie wussten, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Weltkrieg führen würde. Mit nicht zu überbietender Arroganz glaubten die deutschen Militärstrategen, dass die russischen Eisenbahnen wesentlich schlechter seien als die deutschen und daher die Mobilisierung des gigantischen deutschen Militärapparates, eines Massenheeres von Millionen Soldaten und Abertausenden Kriegswaffen, wesentlich schneller vonstatten ginge als die des russischen. Und daher wollte man in einem Blitzkrieg erst die französische Armee im Westen schlagen, um dann die Russen im Osten niederzuwalzen. Siegestrunken – aufgrund des raschen Vormarsches durch Belgien – reiste in der Nacht vom 16. auf den 17. August 1914 die gesamte deutsche Machtelite, die Generäle, der Kanzler, die Regierung und der Kaiser – nur die Kapitalisten fehlten, die aber hatten die Fahrpläne gemacht – in einem einzigen Zug von Berlin ins neue Hauptquartier der Obersten Heeresleitung (OHL) nach Koblenz.2 Kein Verschwörer lag am Bahndamm und sprengte die Strecke, wie es Anarchisten vergeblich mit dem Niederwalddenkmal, der riesigen Richtung Frankreich drohenden Germania-Statue, bei Rüdesheim, gut 50 Kilometer südlicher und 30 Jahre zuvor, anlässlich dessen Einweihung versucht hatten3 – das Pulver war nass geworden.
Abb. 1 Niederwalddenkmal
Das der deutschen Militärs 1914 war trocken. Und einige Bohemiens und Anarchisten meldeten sich im August 1914 freiwillig4 – im Gegensatz zu den meisten deutschen Arbeitern, die, entgegen überholter Geschichtsschreibung, gar nicht begeistert waren über die Fahrt nach Paris, zu der es für Millionen von Soldaten keine Rückfahrkarte mehr brauchte.
Doch das Kalkül ging nicht auf. Die russischen Eisenbahnen waren schneller und besser als vermutet, und die deutschen Bahnen blieben vor Paris stecken.
Der entstandene Zweifrontenkrieg weitete sich zum Krieg mit Fronten in aller Welt. Hier erfüllte sich eine andere Prophezeiung, 1887 von Friedrich Engels gemacht: »Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen.«5
Tatsächlich war, vier Jahre nachdem die ersten deutschen Militärzüge Richtung Belgien und Frankreich gerollt waren, im Herbst 1918 dieser Weltkrieg für die deutschen Armeen nicht mehr zu gewinnen. In Frankreich saßen inzwischen außer französischen, englischen, australischen, indischen, burmesischen und afrikanischen auch immer mehr US-amerikanische Soldaten in Zügen und rollten an die Front.
Da setzte die OHL Anfang November 1918 einen Zivilisten in einen Zug. Der rollte sehr langsam – wie von der französischen Militärführung befohlen – durch verwüstetes Kriegsgebiet und brachte den Zentrumsabgeordneten Matthias Erzberger an einen ihm unbekannten Ort im Wald, den die deutschen Militäreisenbahnen nie erreicht hatten: Compiègne. Dort musste er den Waffenstillstand – im Auftrag der Regierung und der deutschen Obersten Heeresleitung – unterzeichnen.
Zur gleichen Zeit machten sich Tausende blau gekleidete deutsche Matrosen mit roten Fahnen in grünen Zügen auf den Weg von den Küstenstädten, die sie in einer Revolte in ihre Gewalt gebracht hatten, in alle Winkel des Reiches und verbreiteten in Windeseile ihre Botschaft: »Nieder mit dem Krieg, nieder mit dem Kaiser!« Es schien sich das zu erfüllen, was Marx und Engels 1848 prophezeit hatten: Die Eisenbahn transportierte eine Revolution, und zwar nicht in wenigen Jahren, sondern in wenigen Tagen. Die Massen in München unter Führung von Kurt Eisner (7. November 1918) und die Massen in Berlin unter Anleitung der Revolutionären Obleute (9. November 1918) brachten das zustande, was Engels 1887 prognostiziert hatte: »Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt.«6
Abb. 2 Unterzeichnung des Waffenstillstands – Nachinszenierung für den Bayerischen Rundfunk
Die Kronen purzelten tatsächlich, in Deutschland, in Österreich, in Ungarn und zuvor schon in Russland. Und die deutschen Matrosen, die deutschen revolutionären Massen, hauptsächlich SPD-Anhänger, schienen tatsächlich zu siegen. Die alten Mächte, die alten Militärs wirkten entmachtet. Und der liberale Publizist Theodor Wolff sah gar am Tag danach, am 10. November 1918, »die größte aller Revolutionen«7.
Geblieben sind 99 Jahre danach Verdrehungen und Verschüttungen. Von Umsturz ist die Rede und von Zusammenbruch. Oder einfach vom Kriegsende.
So erwähnt der ehemalige DDR-Dissident Markus Meckel (SPD) 2017 in einem Interview über das Kriegsende 1918 die Revolution, die wesentlich zum Kriegsende beigetragen hat, mit keinem Wort. Und Gerd Krumeich, Historiker und Gegner Fritz Fischers (Griff nach der Weltmacht), wagt es gar, in der FAZ die Lüge vom Dolchstoß aufzuwärmen.8 Eine Lüge, die die Herren der OHL, General a. D. Erich Ludendorff und Generalfeldmarschall a. D. Paul von Hindenburg, in den 20er Jahren verbreitet hatten: Der Krieg, den sie selbst im September 1918 als verloren erklärt hatten, sei gar nicht verloren gewesen und die Revolutionäre in der Heimat, ja sogar die SPDFührung, der nichts ferner lag, hätten die Front von hinten erdolcht. Nur deswegen habe Deutschland die Waffen strecken müssen. Auch Krumeich verdammt 2017 »die Revolutionäre« des Novembers 1918, weil »die Kriegssituation nicht völlig aussichtslos gewesen« sei. Was absurd ist angesichts der militärischen Stärke der USA, die der Historiker mit keinem Wort erwähnt.
Ursache solcher Historiker-Verdammung ist die grundsätzliche Furcht der gegenwärtig als Wertegemeinschaft kaschierten neuen deutschen Volksgemeinschaft vor Revolutionen. Missachtet wird in solcher Gesellschaft der Deutsche Bauernkrieg von 1525, und stiefmütterlich behandelt die bürgerliche Revolution von 1848. Stattdessen schreibt man sich das friedliche Hambacher Fest von 1835 aufs Panier, eine Marginalie im Vormärz dieser Revolution. Nur nicht die Barrikadenkämpfe 1848 in Berlin, Wien, Leipzig und anderswo hervorkehren, nur nicht den Kampf der Badischen Revolutionsarmee gegen die preußische Armee erwähnen. Und schon gar nicht, dass der König von Preußen, Friedrich Wilhelm IV., im März 1848 in Berlin seine Mütze vor den »für СКАЧАТЬ