Название: November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts
Автор: Klaus Gietinger
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783960540762
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Im vorliegenden Buch kommen auch die langfristigen Auswirkungen des Triumphs der deutschen Konterrevolution zur Sprache. Die zumindest zeitweilige Schwächung des deutschen Militarismus konnte nach Lage der Dinge nur noch durch die siegreichen Entente-Mächte erzwungen werden. Das konterrevolutionäre Bündnis zwischen der Generalität und der Sozialdemokratie löste sich nur unter dem Druck von außen auf. Militärischer Widerstand gegen den Versailler Vertrag und seine Abrüstungsbestimmungen war nicht möglich, und damit wurde eine im Juni 1919 nochmals erwogene Militärdiktatur unter den Galionsfiguren Noske und Ebert hinfällig. Stattdessen scheiterte ein Staatsstreich der Militärs gegen ihre bisherigen politischen Partner (der Kapp-Lüttwitz-Putsch). Nun gingen die Wege tatsächlich auseinander, aber die Kampftruppen des Weißen Terrors existierten untergründig weiter und wurden zusammen mit den sie finanzierenden Rüstungsmagnaten zu Keimzellen des Faschismus und eines erneuerten militärischindustriellen Komplexes, der auf einen Revisionskrieg zusteuerte und nur auf seine Chance wartete, die Weimarer Republik zu zerstören.
Angesichts dieser auch weltgeschichtlich weitreichenden Folgen des gescheiterten deutschen Frühlings stellt sich die Frage, inwieweit es sich bei dem nach dem Matrosenaufstand zustande gekommenen Übergewicht der politisch-militärischen Konterrevolution um ein singuläres Ereignis gehandelt hat. Die deutsche Revolution war in eine weltweite Umsturzbewegung eingebettet. Ihr unmittelbarer Auslöser waren die Entbehrungen des Kriegs, gegen die die Unterklassen – die zum Militär gepressten Bauern und Industrieproletarier und ihre Familien an den »Heimatfronten« – seit 1916/17 zu revoltieren begannen. Dabei formierten sich in Russland, den USA und auf dem gesamten europäischen Kontinent – auch in mehreren neutralen Ländern – breite soziale Massenbewegungen, die sehr schnell mit den Kräften der Konterrevolution konfrontiert waren. In den USA wurde ein vor allem von revolutionären Syndikalisten initiierter und gegen den Kriegseintritt gerichteter Streikzyklus 1917 blutig unterdrückt, und eine nach Kriegsende in Gang gekommene Massenstreikbewegung – die größte der bisherigen US-amerikanischen Arbeitergeschichte – wurde mit offenem Terror und der Massenausweisung rebellischer MigrantInnen beantwortet. In Russland kam es dagegen im Februar 1917 zum Sturz des Zarismus und zur Bildung einer Übergangsregierung, die die sozialrevolutionären Prozesse – Massendesertionen, Betriebsbesetzungen und die Enteignung des Großgrundbesitzes durch Bauern und Bauern-Arbeiter – nicht zu kanalisieren vermochte. Durch den Oktoberumsturz der Bolschewiki wurden diese Errungenschaften zunächst institutionell verankert, dann aber durch gravierende innen- und außenpolitische Fehlentscheidungen und ein gegen die Massenbedürfnisse gerichtetes Modernisierungskonzept in Frage gestellt. Da sich die Bolschewiki zudem im März 1918 im Ergebnis der Verhandlungen von Brest-Litowsk einem separaten Friedensdiktat der Mittelmächte unterwarfen, vergaben sie die Chance einer gesamteuropäischen Ausweitung der sozialen Umwälzungen. Die Folge war die Entfesselung eines von den Entente-Mächten unterstützten Bürgerkriegs, wobei die Bolschewiki den Weißen Terror mit exzessiv gewalttätigen Methoden beantworteten, nachdem sie mit Hilfe einiger zu ihnen übergelaufener Generalstabsoffiziere eine eigene Armee aufgebaut hatten.
Das waren die wesentlichen internationalen Rahmenbedingungen, mit denen die Akteure und Widersacher der kontinentaleuropäischen Umsturzbewegungen seit dem Herbst 1918 konfrontiert waren. Die Habsburg-Monarchie löste sich von selbst – »von oben« – in ihre Nationalstaaten auf: Österreich durchlief eine sozialreformerische Parametrisierung, die der Arbeiterbewegung erheblichen Terraingewinn einbrachte. In Ungarn spitzte sich die Entwicklung dagegen zu und kulminierte im März 1919 in einer sozialistischen Räterepublik, die fünf Monate später durch eine von innen und außen gestützte Konterrevolution blutig erstickt wurde. Zu dieser Zeit triumphierte der Weiße Terror aber auch in Spanien, und ein Jahr später begann in Italien der Generalangriff der Großgrundbesitzer-Milizen und der faschistischen Kampfbünde auf die Landarbeiterbewegung und die Arbeiterräte. Überall sollte die sozialrevolutionäre Initiative so schnell und so brutal wie möglich vernichtet werden, um die Internationalisierung der von den russischen Soldaten, Arbeitern und Bauern eröffneten Perspektive – Frieden, Land, Arbeiterkontrolle und kollektive Selbstbestimmung – zunichte zu machen. Das war der reale Kern der »Bolschewismus-Psychose«, auf die Klaus Gietinger in seiner Arbeit immer wieder hinweist.
Der internationale sozialrevolutionäre Aufbruch der Jahre 1917 bis 1921 scheiterte somit fast überall am entschlossenen Auftreten der Konterrevolution. Selbst die politischen und sozialreformerischen Zugeständnisse – allgemeines Wahlrecht, Achtstundentag, Ausbau der sozialen Sicherungssysteme – waren häufig nur eng befristet und wurden bald wieder zurückgenommen; sogar mehr oder weniger direkte Übergänge zur Institutionalisierung der Konterrevolution waren – etwa in Ungarn und Italien – zu beobachten. In den USA setzte sich eine rigide Open-Shop-Politik durch, die mit extrem restriktiven Einwanderungsbestimmungen kombiniert war, und in Sowjetrussland begann die Rote Armee 1920/21 offen, gegen die um ihre sozialen Errungenschaften kämpfenden Bauern und Arbeiter vorzugehen.
Der Winter, der sich in Deutschland zu Beginn der 1920er Jahre wieder ausbreitete, war somit kein Ausnahmephänomen. Und doch gab es ein strukturelles Merkmal, das in allen anderen Szenarien der revolutionären Nachkriegskrise fehlte: das uneingeschränkte Paktieren der deutschen Sozialdemokratie mit der militärischen Konterrevolution und ihre gemeinsame Frontstellung gegen die Unterklassen. In dieser Hinsicht stand die deutsche Sozialdemokratie völlig allein da – so allein wie im Juli/August 1914, als sie alle Angebote ihrer Schwesterparteien in Frankreich und anderswo in den Wind schlug und einen transnationalen Generalstreik gegen die Entfesselung des Ersten Weltkriegs verhindert hatte.
Als Klaus Gietinger vor acht Jahren bei der Edition Nautilus seine wegweisende Studie über Waldemar Pabst, die militärische Schlüsselfigur der deutschen Konterrevolution, veröffentlichte, schlug ich der Historischen Kommission der SPD in meinem Vorwort vor, den Namensgeber ihrer Parteistiftung durch eine allseits respektierte andere Führungspersönlichkeit zu ersetzen. Ich stieß auf lebhafte Ablehnung. Aber die Erinnerungskultur ist ein recht langsames Gefährt, und die Novemberrevolution muss in ihr erst noch ihren Platz finden. Deshalb möchte ich an dieser Stelle meinen Vorschlag auf Umbenennung der Friedrich-Ebert-Stiftung erneuern und um eine weitere Empfehlung ergänzen. Wie wäre es, wenn die Historische Kommission ein Handbuch mit den Kurzbiografien aller jener 4500 bis 5000 Menschen, die unter der Mitverantwortung der SPD dem Weißen Terror der Jahre 1918 bis 1920 zum Opfer fielen, herausbringt? Und wenn sie dazu auch noch die Adressen der Nachkommen СКАЧАТЬ