Название: November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts
Автор: Klaus Gietinger
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783960540762
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Der gigantische wirtschaftliche Aufschwung, den das Deutsche Reich Anfang der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts erlebte, führte nicht nur zum Weltmachtstreben der Herrschenden, sondern hatte auch extreme soziale Verwerfungen zur Folge und verhalf so der SPD zum rasanten Aufstieg.
Es bildeten sich drei große industrielle Zentren heraus: das Ruhrgebiet mit Kohle und Stahl, das mitteldeutsche Dreieck Halle, Leuna, Merseburg mit den Grundstoffindustrien, insbesondere der chemischen Industrie, und Berlin mit den Bereichen Metall, Elektro und Maschinenbau.73 Weitere Kohle- und Stahlzentren waren Oberschlesien, Ostpreußen und das Saarland. Aber auch in den Küstenstädten, in den teils noch agrarisch geprägten Gebieten in Württemberg, Baden und Bayern entstanden Großindustrien. Dies alles ging einher mit Konzentration, Kartellbildungen und dem Niedergang zahlreicher Handwerksbetriebe, aber auch Teilen der Textilindustrie.
Die sozialen Gegensätze verschärften sich aufgrund des Ersten Weltkriegs ab August 1914 durch den Burgfrieden, durch Zwangswirtschaft, Kriegssozialismus, Arbeitshetze, Kriegsdienst, Massensterben an den Fronten, Vernachlässigung der Konsumwirtschaft, Blockade der Alliierten, Hunger und Entbehrungen jeder Art.
Millionen Männer wurden in Uniformen, Jugendliche und Frauen in die Betriebe gezwungen.
Während gleichzeitig die Mangelwirtschaft zu Schwarzhandel, Spekulation, gigantischen Gewinnen der Kapitalisten und einem Leben in Saus und Braus für die Begüterten führten, blieben für die arbeitenden Massen vor allem Ausbeutung, Hunger, Kälte und Not.
Stiegen die Gewinne der Metallindustrie um 175 % und die der chemischen um 200 %, sank der tägliche Durchschnittskalorienverbrauch der Deutschen von 4000 Kalorien vor 1914 auf knapp über 2000 Kalorien 1918, wo fürs Überleben mindestens 3000 Kalorien benötigt werden.74 Die Versorgung mit Fetten und Eiweiß war mehr als mangelhaft, Fleisch, Eier und Milch nur für Wohlhabende zu horrenden Schwarzmarktpreisen zu haben.
Hunderttausende starben auch an der Heimatfront, Millionen erkrankten, magerten ab. Die militärisch-tayloristisch organisierte Kriegsproduktion mit gesteigerter Arbeitsintensität und verlängerten Arbeitszeiten führte zur physischen Erschöpfung vor allem in der Massenproduktion.75 Patriotismus und Annexionsgelüste verflogen bei den in der Industrie arbeitenden Massen, sollten sie je weit verbreitet gewesen sein.
Abb. 7 Anstehen für Erbsen
Auch die Angestellten und Beamten verloren aufgrund von wertlosen Kriegsanleihen und hoher Inflation ihr bescheidenes Vermögen. Löhne und Gehälter stagnierten. Die Mittelklasse stieg ab.
Die Arbeiterklasse war massenhaft in ihrer physischen Existenz gefährdet.
Am stärksten war die soziale Spaltung in der Lebensmittelversorgung zu spüren. Dies war der Nährboden für erste »Ausschreitungen« und soziale »Unruhen«.76
Die Massen gegen den Krieg
Konträr zu den Oligarchen im Parteivorstand zeigte sich an der Basis der SPD ab 1916 immer stärkerer Widerstand gegen den Krieg.77
Ausgehend von den Drehern in Berlin, entwickelte sich eine Art »Vortrupp des Proletariats«, um die 50–80 Mann, aus denen dann später die Revolutionären Obleute hervorgingen. Diese Avantgarde unterschied sich von der Lenins 1917 dahingehend, dass sie nicht autoritär von oben bestimmte, sondern sich immer auf die Mehrheit der Arbeiter stützte. Die Obleute waren keine Bolschewisten im Sinne Lenins, sondern in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes »Bolschewiki«: Mehrheitler. Sie erreichten Tausende von Arbeitern in den Berliner Großbetrieben. Es gab Kontakte und Überschneidungen mit der USPD und der Spartakusgruppe um Liebknecht und Luxemburg, gleichwohl blieben die Obleute selbstständig und nicht parteigebunden. Jahrzehntelang wurden sie in der Forschung missachtet78 oder unter das falsche Label »Spartakus« subsumiert.79 Erst durch jüngere Untersuchungen konnte ihre wichtige Rolle in der Revolution belegt werden. Sie waren es und nicht die USPD oder Spartakus, die der Spontanität der Massen, zumindest in Berlin, maßgeblich zum Recht verhalfen.80 Sie stellten sich von Anfang an gegen den Burgfrieden, also den Verzicht auf Klassenkampf im Krieg, kämpften aber erst 1916 dezidiert gegen die Fortführung des Krieges. Zum ersten politischen Massenstreik in der Geschichte Deutschlands kam es nach der Verhaftung von Karl Liebknecht im Mai 1916. Liebknecht und die Gruppe Internationale/Spartakus hatten zum 1. Mai zu einer Demonstration für den Frieden aufgerufen.81 Die SAG mit Georg Ledebour distanzierte sich. Trotzdem fand die Demonstration statt, und Liebknecht wurde, nachdem er am Potsdamer Platz in Soldatenuniform (er musste als »Schipper« Kriegsdienst leisten und bekam nur zu den Reichstagssitzungen Urlaub) »Nieder mit dem Krieg, nieder mit der Regierung!« gerufen hatte, sofort verhaftet und eingesperrt. Rosa Luxemburg hatte ihn begleitet und ihn sogar mit ihren »Fäuste(n) zu ›befreien‹« versucht: »Ich zerrte an ihm und den Schutzleuten bis in die Wache, wo man mich unsanft abwies.«82
Gegen den bevorstehenden Prozess sollte gestreikt werden.83 In einem Lokal in der Sophienstraße versammelten sich 30 Obleute um den Dreher Richard Müller und beschlossen den Generalstreik. Schon am nächsten Tag, am 28. Juni, streikten 55 000 Metallarbeiter in Berlin (Borsig, AEG, Löwe und Schwartzkopff). Am darauffolgenden Tag schlossen sich nochmals mehrere Berliner Betriebe an, sodass insgesamt 75 000 Arbeiter die Arbeit niederlegten. Die Verurteilung Liebknechts konnte nicht verhindert werden. Er erhielt im November über vier Jahre Zuchthaus. Zahlreiche Streikteilnehmer wurden – verhöhnt von der Parteiführung der SPD als »Kriegsverlängerer«84 – zum Kriegsdienst eingezogen. Gewerkschaftsfunktionäre zögerten nicht, ihre rebellischen Mitglieder an die politische Polizei zu verraten.85 So zitiert ein Protokoll des Oberkommandos in den Marken einen Gewerkschaftsführer: »Gegen den Terrorismus (gemeint sind geplante Streiks, KG) müsste vorgegangen werden.« Er sei bereit, »eine Liste von weiteren Hetzern vorzulegen«, und bat um »finanzielle Unterstützung«.86 Folge waren meist Verhaftung und Kriegsdienst an der Front. Letzteres wirkte durchaus abschreckend und demoralisierend – wer wollte schon verheizt werden?87 Gleichzeitig war diese Maßnahme ein zweischneidiges Schwert, denn so wurden auch die Fronttruppen agitiert.88
Der folgende Winter – der berühmte Steckrübenwinter 1916/17 – war katastrophal, die Versorgungslage schrecklich. Tausende verhungerten, es kam zu Brotrevolten.89 Schließlich folgte ein neuer Streik im April 1917, wieder organisiert von den Obleuten und wieder kam er von der Basis und nicht von den Parteien. Und diesmal waren es schon zwischen 200 000 und 300 000 in Berlin – und nicht nur dort.90 Auch in Halle, Magdeburg und Leipzig war Ausstand angesagt.91 Müller wurde schon bei der Vorbereitung festgesetzt – vermutlich wieder durch Denunzianten in der Führung des Deutschen Metallarbeiter Verbandes (DMV), der traditionellen Gewerkschaft – und trotz seiner extremen Sehschwäche zum Kriegsdienst eingezogen. Neben der Lebensmittelversorgung war auch die Freilassung Müllers eine Forderung der Streikenden. Adolf Cohen, der Stellvertreter Müllers, der die Politik der alten Gewerkschaftsführung vertrat, blies den Streik aufgrund einer Zusage der Militärs, man würde Müllers Verhaftung überprüfen, wieder ab. Und obwohl sich die USPD-Führung, darunter Wilhelm Dittmann, Ledebour und sogar Haase, für die Fortsetzung des Streiks einsetzte, brach er am 23. April endgültig zusammen. Die Parteiführung der SPD und die Gewerkschaftsführungen hatten sich gegen den Streik ausgesprochen und schickten sogar Ergebenheitsadressen an General Groener von der OHL.92 Wieder folgten Repression, Verhaftungen, Denunziationen und Einzug als Kanonenfutter. Gleichzeitig hatten sich erstmals Streikkomitees, also Räte, gebildet, die allerdings noch keine rätedemokratischen Forderungen stellten. Müller, als hochqualifizierter Facharbeiter, entkam nach drei Monaten wieder dem Militärdienst. СКАЧАТЬ