Название: H. G. Wells – Gesammelte Werke
Автор: Herbert George Wells
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962813628
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Tagsüber ging er selten aus, aber im Halbdunkel pflegte er bei jedem Wetter, bis zur Unsichtbarkeit vermummt, spazierenzugehen, und selbst dann wählte er die einsamsten und dunkelsten Wege. Die riesige Schutzbrille, das geisterhaft verhüllte Gesicht unter dem breitrandigen Hut, trat er oft spät heimkehrenden Arbeitern unheimlich plötzlich entgegen. Und Teddy Henfrey, der eines Abends um halb zehn Uhr aus dem Gasthause »Zum roten Frack« heraustaumelte, wurde durch des Fremden ungeheuerlichen Kopf, den ein Lichtstrahl aus der geöffneten Wirtsstubentür plötzlich beleuchtete, tödlich erschreckt. Kinder, die ihn bei Anbruch der Nacht sahen, träumten von Gespenstern, und es war eine offene Frage, ob er die Kinder mehr hasste oder sie ihn. Auf jeden Fall aber bestand eine lebhafte Abneigung auf beiden Seiten.
Es war unvermeidlich, dass ein Mensch von so ungewöhnlichem Äußern und solchem Benehmen in einem Dorfe wie Iping den häufigen Gesprächsstoff bildete. Über seine Beschäftigung waren die Meinungen sehr geteilt. Mrs. Hall war in diesem Punkte sehr empfindlich. Wurde sie gefragt, so erklärte sie wohlgefällig, dass er ein »Experimentalforscher« sei, und sprach jede Silbe so sorgfältig aus, als ob sie fürchtete, darüber zu stolpern. Fragte man sie, was ein Experimentalforscher eigentlich sei, pflegte sie mit einer gewissen Überlegenheit zu erwidern, dass gebildete Leute solche Sachen gewöhnlich wüssten, und fügte als Erklärung bei, dass er »Entdeckungen mache«. Ihr Gast habe einen Unfall erlitten, sagte sie, durch welchen sein Gesicht und seine Hände entstellt worden wären, und da er zur Empfindlichkeit neige, weiche er natürlich allen Menschen aus. Eine weit verbreitete Ansicht, von der aber Mrs. Hall nichts zu hören bekam, ging dahin, der Fremde sei ein Verbrecher, der sich vor den Augen der Polizei verberge, um sich der Gerechtigkeit zu entziehen. Dieser Gedanke war dem Gehirne Mr. Teddy Henfreys entsprungen und hatte leider die Tatsache gegen sich, dass seit Mitte oder Ende Februar kein Verbrechen von irgendwelcher Bedeutung begangen worden war. In der Fantasie Mr. Goulds, des Probelehrers an der Volksschule, nahm der Verdacht eine andere Form an: er hielt den Fremden für einen verkleideten Anarchisten, der Sprengstoffe vorbereite, und er beschloss, dem ganz in der Weise eines Detektivs nachzuspüren, so gut es seine Zeit erlaubte. Seine diesbezügliche Tätigkeit bestand hauptsächlich darin, den Fremden, wo immer er ihn traf, scharf anzusehen oder Leute, welche den Fremden nie gesehen hatten, zu Mitteilungen über denselben zu veranlassen. Aber er entdeckte nichts.
Die Anhänger wieder einer anderen Schule, deren Haupt Fearenside war, huldigten entweder der Scheckentheorie oder einer Abart derselben. So zum Beispiel meinte Silas Durgan, der Fremde könnte sein Glück machen, wenn er sich entschlösse, »sich auf Jahrmärkten« zu zeigen, und als Bibelkenner verglich er den Fremden mit dem Mann mit dem einen Pfund. Wieder andere stellten ihn als einen harmlosen Irrsinnigen hin, eine Annahme, die den unleugbaren Vorzug hatte, alle Sonderbarkeiten des Fremden erklären zu können. Zwischen diesen Hauptgruppen standen Leute, die sich noch keine feste Meinung gebildet hatten und solche, die jedem recht gaben. Das Volk in Sussex ist nicht abergläubisch, und erst nach den Ereignissen der ersten Apriltage tauchte im Dorfe der Gedanke an etwas Übernatürliches auf; selbst dann aber glaubten nur Frauen daran.
Aber wofür sie ihn auch halten mochten, in der Abneigung gegen den Fremden waren die Bewohner von Iping so ziemlich einig. Seine Reizbarkeit, die für einen Städter, der sich geistig beschäftigt, nichts Merkwürdiges gehabt hätte, war für die ruhigen Landleute eine erstaunliche Sache. Die wilden Gebärden, bei denen sie ihn hie und da überraschten, die Hast, mit der er nach Einbruch der Dunkelheit auf abgelegenen Wegen mehr lief als ging, die unnatürliche Zurückweisung aller ihrer neugierigen Annäherungsversuche, seine Vorliebe für das Dämmerlicht, die ihn die Türen schließen, die Vorhänge herunterlassen, Lichter und Lampen auslöschen ließ – wer konnte sich mit solchen Dingen befreunden? Man wich ihm aus, wenn er durchs Dorf ging, und sobald er vorbei war, pflegten humoristisch veranlagte Jünglinge mit aufgeschlagenem Rockkragen und abwärts gebogener Hutkrempe den nervösen Schritt und das geheimnisvolle Gebaren des Gastes nachzuahmen. Es war gerade damals das »Lied von der Vogelscheuche« sehr populär. Miss Satchell hatte es im Schulvereinskonzert – zugunsten der Anschaffung neuer Kirchenleuchter – gesungen. Und so oft nachher mehrere Ipinger beisammen standen und der Fremde zufällig vorüberging, pfiff einer oder der andere, bald laut, bald leise, einige Takte des Liedes vor sich hin. Selbst kleine Kinder, die zufällig des Abends noch auf der Straße waren, riefen ihm »Vogelscheuche!«, nach und liefen dann, stolz über ihren Mut, davon.
Cuss, der Wundarzt, wurde von Neugierde verzehrt; die Verbände erregten sein wissenschaftliches Interesse, das Gerücht von der ungeheuren Menge von Flaschen seine Eifersucht. Den ganzen April und Mai suchte er krampfhaft nach einer Gelegenheit, mit dem Fremden in Berührung zu kommen. Endlich, gegen Pfingsten, hielt er es nicht länger aus und nahm die Sammelliste für einen Pflegerinnenfonds zum Vorwand, um den geheimnisvollen Gast im »Fuhrmann« aufzusuchen. Er war erstaunt zu hören, dass Mr. Hall den Namen seines Mieters nicht kannte.
»Er nannte seinen Namen«, erklärte Mrs. Hall – eine gänzlich ungerechtfertigte Behauptung – »aber ich verstand ihn nicht recht.« Sie dachte, es sähe so dumm aus, den Namen des Mannes nicht zu wissen.
Cuss pochte an die Tür und trat ein. Eine ziemlich deutliche Verwünschung drang aus dem Zimmer heraus.
»Entschuldigen Sie mein Eindringen«, begann Cuss, dann schloss er die Tür und Mrs. Hall musste wohl oder übel auf den Rest des Gespräches verzichten.
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