Leben ohne Maske. Knut Wagner
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Название: Leben ohne Maske

Автор: Knut Wagner

Издательство: Автор

Жанр: Биографии и Мемуары

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isbn: 9783957163080

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СКАЧАТЬ Radio gehört hätte und wüsste, was in Ungarn los sei.

      „Ich hatte mit meinem Vater bis in den späten Abend hinein alle möglichen Nachrichtensender gehört und am nächsten Morgen erzählte ich dir, dass die Russen in Ungarn mit Panzern Leute niederwalzen, und du warst darüber genauso empört wie ich“, sagte Ulli.

      „Und als Fräulein Schmalz die Klasse betrat, versuchte sie, einer Ungarn-Diskussion aus dem Weg zu gehen. Man könne nicht viel darüber sagen, meinte die Schmalzen. Aber aus dir sprudelte nur so heraus, was du von den westlichen Nachrichtensendern gehört hattest“, spann Wolfgang die Geschichte weiter. „Und nachdem du Frage auf Frage gestellt hattest, sprach Fräulein Schmalz plötzlich von Konterrevolution. Aber keiner von uns wusste, was unter Konterrevolution zu verstehen war. Denn in Geschichte waren wir erst beim Faustkeil.“

      „Als die Schmalzen uns weiszumachen versuchte, dass in Ungarn Feinde am Werk wären, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollten, erklärten wir unseren Austritt aus dem Gruppenrat,und der kleine Herbst, der ‚Eine schöne Ordnung ist das, die Menschen niederwalzt‘ in die Klasse gebrüllt hatte, schloss sich uns an“, sagte Ulli, der damals ihr Wortführer gewesen war.

      „Fräulein Schmalz sagte, wir sollten uns das noch einmal gut überlegen. Nächste Woche sei Pioniernachmittag, und da könne man nochmals in Ruhe darüber reden“, erinnerte sich Wolfgang.

      „Dass die Schmalzen den Austritt aus dem Gruppenrat nicht an die große Glocke hing, lag vielleicht daran, dass sie eine Woche später in den Westen ging“, sagte Ulli, und süffisant lächelnd fügte er an: „Vielleicht lag es aber auch daran, dass du ihr Lieblingsschüler warst. Sie hielt dich ja für eine poetische Begabung, und ich kann mich noch genau daran erinnern, wie wir uns anhören mussten, was du über einen ‚Nachmittag im Lustgarten‘ geschrieben hattest.“

      „Aber mir war es unheimlich peinlich, als die Schmalzen meine Schreibkünste pries und ich meinen Aufsatz als gelungenes Beispiel für eine Schilderung von vorn bis hinten vor der ganzen Klasse vorlesen musste“, sagte Wolfgang.

      Auf drei Seiten hatte er beschrieben, was er kurz vor einem Gewitter gesehen und empfunden hatte. Mit der drückenden Schwüle, dem fernen Gewittergrollen, dem aufkommenden Wind, der die Blätter der Büsche und die Zweige der Bäume zauste, hatte sein Aufsatz begonnen, und mit dem Verfinstern des Himmels und dem Tiefflug einer Amsel, die aufgeregt Zuflucht im Gebüsch suchte, hatte er geendet.

      „Hatte sie nicht recht, als sie von deiner poetischen Begabung sprach?“

      „Mag sein“, wiegelte Wolfgang ab und versuchte, das Thema zu wechseln. Auf einem der bunten Glasfenster war eine üppige Frau mit gelben Weintrauben im Haar zu sehen, und Wolfgang, der eine Vorliebe für vollbusige Frauen mit einem breiten Hintern hatte, fragte neugierig nach der dicken Frau Fendrich aus dem Hinterhaus.

      „Die dicke Frau Fendrich ist noch dicker geworden“, sagte Ulli. Er konnte sich denken, warum Wolfgang nach ihr fragte, und als wolle er sich vergewissern, ob seine Annahme richtig sei, sagte er: „Weißt du noch, wie wir zwischen den Bretterstapeln standen und ihr beim Duschen zusahen?“

      „Ich habe das Bild noch genau vor Augen“, sagte Wolfgang und erinnerte sich an jenen Abend, als er und Ulli, auf einem Bretterstapel der angrenzenden Tischlerei stehend, aufgeregt zusahen, wie Frau Fendrich das Licht im Badezimmer anmachte und sich in Fensternähe auszuziehen begann.

      Wolfgang hockte zwischen den hoch aufgeschichteten Brettern und hoffte, Frau Fendrich möge die Gardine nicht zuziehen. Er sah, wie sie milchfarbig und dickbeinig unter der Dusche stand und das Wasser auf ihren fülligen Körper prasselte, bis die Badezimmerscheiben völlig mit Wasserdampf beschlagen waren.

      „Von jenem Moment, da ich die dicke Frau Fendrich unter der Dusche gesehen hatte, kam ich nicht mehr los von ihr, und sie erschien mir sogar im Traum“, sagte Wolfgang. Er hatte ihre schweren Brüste, ihren stark behaarten Unterbauch und ihre dicken, fleischigen Oberarme vor Augen, und in seinen Knabenträumen ergoss er sich in die wuchtigen Schenkel von Frau Fendrich.

      Die dicke Frau Fendrich war die erste Frau, die Wolfgang und Ulli nackt gesehen hatten, und nach der dritten Flasche Rotwein legten sie ihre pubertären Kindheitserinnerungen ad acta, und Wolfgang erzählte Ulli, wie es ihm nach seinem Umzug im Februar 1958 in Erfurt ergangen war.

      „Als ich nach Erfurt kam, sächselte ich, und ich wurde von meinen Mitschülern ausgelacht, sobald ich den Mund aufmachte“, sagte Wolfgang. „In Muldenburg war ich gewohnt gewesen, unter den besten Schülern zu sein.“

      „Der beste Junge“, warf Ulli ein, und Wolfgang sagte: „In Erfurt hingegen gehörte ich plötzlich zu den schlechtesten Schülern der Klasse. Selbst in Lieblingsfächern wie Geschichte, Russisch und Sport versagte ich. Obwohl ich glaubte, in Russisch sehr gut zu sein, bekam ich in der ersten Leistungskontrolle gleich eine Fünf. Ich bekam die erste Fünf in meinem Leben, und das in Russisch, wo ich immer auf Eins gestanden hatte. Frau Segler, so hieß die Russischlehrerin, fand das nicht sonderlich tragisch, denn fast alle Jungen der Klasse standen in Russisch auf Vier. Aber für mich brach eine Welt zusammen. Ich weinte, als ich nach Hause kam, und meine Mutter versuchte, mich zu trösten. Aber sie konnte das Schluchzen und Weinen, das den ganzen Nachmittag lang anhielt, nicht eindämmen.“

      „Ich wusste gar nicht, dass du eine solche Memme warst“, warf Ulli ein. „Wenn der alte Burmeister, der zwei Stockwerke unter uns wohnte, nicht gewesen wäre, wäre ich wohl nie auf die Oberschule gekommen“, sagte Wolfgang. „Er war pensionierter Mathematiklehrer und gab mir in einigen Fächern Nachhilfeunterricht.“

      „Schwierigkeiten, auf die Oberschule zu kommen, hatte ich nicht“, sagte Ulli. „Ich war der beste Junge in der Klasse, und Eichhorn, der gleich neben uns wohnte und Direktor der Erweiterten Oberschule war, ließ sich seine maßgeschneiderten Anzüge, die er brauchte, bei meinem Vater machen. Von daher spielte es keine Rolle, ob ich Arbeiterkind war oder nicht. Wenn du verstehst, was ich meine.“

      „Und ob“, sagte Wolfgang. Er war ein Arbeiterkind. Und nur deshalb war er mit seinem mäßigen Notendurchschnitt auf die Oberschule gekommen.

      „Das Abitur habe ich mit 1,8 gemacht“, sagte Ulli. Aber seinem Vater und ihm sei klar gewesen, dass es nicht einfach werden würde, einen Studienplatz für Jura zu bekommen.

      „Also ließ mein Alter seine Beziehungen spielen und besorgte mir nach dem Abitur eine Arbeit im Archiv der Kreisstaatsanwaltschaft“, erzählte Ulli. „Der Kreisstaatsanwalt, der sich wie Eichhorn all seine Anzüge von meinem Vater schneidern ließ, war der Meinung, durch meine Tätigkeit im Archiv, seine Befürwortung und eine wohlwollende Beurteilung über mich stünden die Chancen für ein Jurastudium nicht schlecht. Und wie er es vorausgesagt hatte, kam es. Jetzt bin ich schon im zweiten Studienjahr. Aber das weißt du ja.“

      „Bei mir lief nichts nach Plan“, sagte Wolfgang, „und mit meinem Vater lag ich ständig im Clinch. Besonders nach meinem missglückten Abitur. Meine Prüfung in Geschichte schaffte ich nämlich erst im zweiten Anlauf, und von meinem Vater bekam ich ständig zu hören, was für ein Versager ich doch sei.“

      Da er nach dem missglückten Abitur nicht gewusst habe, was er machen sollte, sei er notgedrungen Autoschlosser geworden, meinte Wolfgang. „Als der Berufsberater mir eine anderthalbjährige, verkürzte Lehre als Autoschlosser anbot, dachte ich an die weißen Monteure an den Boxen berühmter Rennstrecken und sagte ‚Ja‘“, erklärte Wolfgang.

      „Kann ich verstehen“, sagte Ulli. Denn er entsann sich plötzlich wieder jener Zeit, als sie wie besessen Autogramme von Motorradrennfahrern und Formel-I-Größen gesammelt hatten. Vom kleinen Muldenburg in Sachsen aus schickten sie ihre Wünsche СКАЧАТЬ