Название: Indisches Drama
Автор: Hilde Link
Издательство: Автор
Жанр: Культурология
isbn: 9783496030379
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Punkt, wirklich punkt elf stand Konrad am Eingang des Frühstücksraums und winkte. Ich verabschiedete mich von Ray und freute mich aufrichtig, dass Konrad gekommen war.
Wir gingen die Uferpromenade entlang, ohne viel zu reden. Konrad ist nicht gesprächig. Wenn er was sagt, dann Essentielles. Und Essentielles gab es gerade nicht zu besprechen. Wir bogen von der Avenue Goubert in die Rue du Bazar Saint Laurent ab und gelangten schließlich zur Rue La Bourdonnais. La Bourdonnais war im 18. Jahrhundert der Gouverneur von Mauritius. Auf dieser Insel sollte ich später einmal arbeiten. Es ging um indische Tempel als politische und wirtschaftliche Machtzentren. Diese Forschung hatte ich beantragt, weil meine Kinder, inzwischen in der Pubertät, gesagt hatten: „Mama, in diese Zumutung von Indien kannst du künftig alleine fahren. Andere Mütter sind auch Ethnologinnen, und die arbeiten in der Karibik oder irgendwo sonst auf der Welt, wo es schön ist. Wir bleiben zu Hause, schließen uns kriminellen Banden an und werden drogenabhängig, während du in Indien bist.“ Also hatte ich mir überlegt, wo es schön ist auf der Welt und wo sonst noch Inder sind, und kam auf Mauritius. Die Kinder waren einverstanden. Ich stellte einen Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft, und als dieser bewilligt worden war, flogen wir alle miteinander nach Mauritius. Meine Töchter belegten Tauchkurse und flirteten mit den örtlichen Beach Boys, während ich im Landesinneren, da wo sonst niemand hinkommt, eifrig nach indischen Tempeln Ausschau hielt und die Priester befragte, was sie außer religiösen Zeremonien noch so alles treiben. Wirtschaftlich und politisch gesehen. Abends ließen wir uns dann gemeinsam mit den anderen Urlaubern den weißen Rum schmecken, feierten Grillpartys und schauten aufs Meer. Dieses Projekt bescherte uns sogar noch eine Kongressreise nach Japan. In Kyoto und Osaka hat es uns auch gut gefallen. Wären wir sonst ja nie hingekommen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft ist eine wunderbare Einrichtung. Kleiner Tipp: Drohungen von pubertierenden Kindern unbedingt ernst nehmen.
Die Rue La Bourdonnais Nummer zwei war keine Wohnung, sondern ein französischer Kolonialbau mit verschnörkelten Gittern an den hohen Fenstern. Das Haus war von zwei Parteien bewohnt: von Rebecca Gottlieb und von Mr. Shubash, beide Ashramiten. Nach mehrmaligem Klopfen mit dem Vorhängeschloss an das hohe, weiß gestrichene Gittertor vernahm ich ein langgezogenes „Muuuuhh“. Die violetten Bougainvilleen wucherten über die Mauer und bildeten über Konrad und mir eine Laube.
Eine Kuh im Garten dieser Villa?
„Rebecca, mach auf!“ Konrad war ungeduldig.
Eine ältere Frau im abgewetzten Sari kam mit einem Schlüssel in der Hand herbeigeeilt und öffnete das Tor.
„Vanakkamaaya“, (Tamil: Willkommen, Großmutter) sagte Konrad höflich.
„Vanakkamaya“, (Tamil: Willkommen, gnädiger Herr) antwortete die Großmutter. Mir schenkte sie ein freundliches Lächeln.
Auch ich sagte „vanakkamaaya“, schließlich hatte ich nicht umsonst Tamil gelernt.
Die Aaya ging langsam mit wiegendem Schritt voraus und führte uns einen kleinen Weg entlang durch den Garten zu einer von Fächerpalmen gesäumten Terrasse, deren Decke von zwei dorisch nachempfundenen Säulen getragen wurde.
Wir sollten doch auf den Rattansesseln einstweilen Platz nehmen, ob wir einen Tee wollten. Nein, danke.
Wieder ein tiefes „Muuuuh“, das aus dem Haus zu kommen schien.
Die ratlos dreinblickende Aaya führte uns durch ein hohes Holztor, hinein in einen fast doppelt so hohen Raum. In einer Ecke dieser Halle lag eine füllige Gestalt, die kurz muhte, als sie uns erblickte. Das musste Rebecca sein. Die langen braunen, etwas verstrubbelten Haare und die Kaffeeflecken auf dem weißen Gewand ließen mir den Gedanken an eine Kuh nicht abwegig erscheinen. Konrad und ich knieten uns vor das Heilige Tier.
„Rebeccaaaa!“
Ein Blick aus sanften braunen Augen war die Antwort auf Konrads Versuch, die Kuh-Frau zu erreichen.
„Das ist Hilde. Sie will das Haus mieten. Du hast doch gesagt, du ziehst aus.“
„Haaaallooooo!“ Konrad winkte vor Rebeccas Augen mit der flachen Hand hin und her, als würde er am Bahnhof stehen und seine Familie im ausfahrenden Zug verabschieden und als wäre es völlig normal, deutsche Frauen, mich mal noch nicht mitgerechnet, zurück in die Realität zu holen.
Rebecca kam zurück ins Hier und Jetzt, rappelte sich umständlich vom Fußboden hoch und ließ sich in einen weiß lackierten Rattanstuhl fallen, der unter der Last alle vier Beine von sich spreizte. Konrad und ich standen ebenfalls auf und setzten uns auf ein weißes Holzsofa mit weißen Kissen. Rebecca erblickte mich und schaute verwundert. Sie fragte sich wohl, wie wir hereingekommen waren.
„Das ist Hilde“, versuchte Konrad noch einmal sein Glück. „Sie will hier einziehen. Du hast doch gesagt, du willst weg von hier.“
„Weißt du, Hilde“, begann Rebecca, „hier in Indien kannst du einen Yoga machen, wie sonst nirgendwo auf der Welt. Ich mache hier spirituelle Erfahrungen“ – sie hielt einen Moment inne, um ihren Worten die rechte Bedeutung zu verleihen, und fixierte Konrads obersten Hemdknopf – „die ich mir in Deutschland nicht einmal vorstellen konnte.“
Ich nickte wenigstens andächtig, wenn ich schon nicht wusste, wovon Rebecca sprach.
„Manchmal bin ich Kuh. Du musst das richtig verstehen: Ich versetze mich nicht hinein in das Wesen einer Kuh oder tue so, als wäre ich eine. – Ich bin Kuh. Ich – bin – ganz – Kuh.“
Pause.
Rebecca wartete auf mein Nicken. Ich tat ihr den Gefallen.
„Der Dämon der Unwissenheit, weißt Du, Hilde, der Dämon der Unwissenheit, der hält uns alle gefangen. Mich hat er losgelassen.“
Mit einem Male war mir das alles hier unheimlich. Was, wenn auch mich der Dämon der Unwissenheit loslässt? Als hätte sie meine Gedanken erraten – wahrscheinlich hatte ihre innere Stimme ihr mein sorgenvolles Abwägen offenbart – fuhr sie fort:
„Aber“, und jetzt lächelte Rebecca milde, während ihr Blick lange auf ihren Händen ruhte, „da muss man wirklich sehr lange und sehr tiefgründig Yoga gemacht haben, um solch einen Zustand zu erreichen. Ich praktiziere diesen Yoga schon, seit ich zwanzig bin. Jetzt bin ich sechsundfünfzig.“
Ich atmete hörbar auf und war erleichtert, dass der Dämon der Unwissenheit mich noch eine Weile fest im Griff haben würde.
„Sechsunddreißig Jahre Yoga. – So alt, wie ich jetzt bin“, sagte ich mit aufrichtiger Hochachtung.
„Und?“ Konrad kam zurück auf das Wesentliche. „Wann ziehst du hier aus?“
„Sobald ich einen Nachmieter habe, der bereit ist, die restlichen sieben Monate meines Elf-Monats-Vertrages zu übernehmen“, sagte Rebecca sachlich, als wäre sie nie Kuh gewesen.
„Mach ich, das mache ich!“, rief ich begeistert. Und als hätte mich niemand gehört, sagte ich viel zu laut: „Ja, Rebecca, ich übernehme das Haus.“
Jetzt schaute mich Rebecca besorgt an, beugte sich zu mir vor, bis sie ganz nah an meinem Gesicht war, und flüsterte: „Hier sind Geister.“
„Ach.“ СКАЧАТЬ