Название: Indisches Drama
Автор: Hilde Link
Издательство: Автор
Жанр: Культурология
isbn: 9783496030379
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Die Kinder fingen an, sich zu langweilen. Manuel meinte, man müsse für sie Tiere anschaffen. Für bunte Fische wurde ein Aquarium auf der Terrasse platziert, für Trick und Track, zwei Enten, ein Teich im Garten angelegt. Die dicke Katze Anjimaniku, die zum Haus dazu gehörte, hatte Gesellschaft. Der Name der Katze bedeutet „um fünf Uhr“. Zu dieser Uhrzeit war sie damals bei Rebecca eines schönen Tages aufgetaucht. So etwas wie Alltag war eingezogen. Manuel und ich wechselten uns mit der Kinderbetreuung ab. Bald hatte sich in der Straße herumgesprochen, dass zwei weiße Mädchen hergezogen waren, und Johanna und Lena bekamen regelmäßig Besuch von indischen Kindern aus der Nachbarschaft. Eines der Mädchen war Rani, „die Königin“. Rani tauchte schon am frühen Morgen vor der Schule auf, weil es bei uns Reisbrei mit Milch zum Frühstück gab. Nach der Schule kam sie zum Mittagessen und blieb bis zum Abend, außer sie hatte am Nachmittag Unterricht. Ganz unbemerkt wurde Rani Teil unserer Familie.
Eines Tages machte mir Aaya klar, dass sie fündig geworden sei. Ein Freund von ihrem Mann, auch ein Riksha-Fahrer, kannte einen Schauspieler in einem Dorf. „Going native“ ist unter Ethnologen verpönt, aber Aaya wollte mir den Ort nur verraten, wenn ich bereit wäre, beim Besuch einen Sari zu tragen. Also zog ich los und erstand einen für meine Begriffe wunderschönen weißen Baumwollsari mit zarter taubenblauer, fast grauer Blütenborte. Ich hatte an was Dezentes gedacht, an sowas wie in unserer Kultur das „kleine Schwarze“. Am Nachmittag, bevor ich mich mit meinem neu angeschafften Fahrrad auf den Weg machen wollte, bat ich Aaya, mir beim Ankleiden zu helfen. Einen Sari anziehen ist nicht ganz einfach. Ohne einen für mich ersichtlichen Grund war Aaya entsetzt und sträubte sich, mir zur Hand zu gehen. Sie wiederholte mehrere Male ein Wort, das ich noch nicht kannte. Das war mir, ehrlich gesagt, auch egal, ich wollte ja den Sari anziehen und nicht Tamil lernen. Das Wort hieß „Witwe“.
In Indien bringen Witwen anderen Menschen Unglück. Und zwar deshalb, weil es die Schuld der Frau ist, wenn der Ehemann stirbt. Ganz einfach. Hätte sie sich ausreichend gekümmert, wäre der Mann ja wohl noch am Leben. Bis vor noch nicht allzu langer Zeit hat man auf den Dörfern in Südindien zur Verbrennung des Leichnams eines Ehemannes eine Grube ausgehoben. Sobald das Feuer loderte, stieß man die Ehefrau hinein. Die meisten Frauen wollten nämlich nicht freiwillig ihrem Mann in die nächste Wiedergeburt oder in die endgültige Befreiung, Moksha, folgen. Heutzutage müssen Witwen wenigstens kenntlich gemacht werden, damit man sich vor ihnen in Acht nehmen kann, nicht dass einem noch was Schlimmes widerfährt. Zwar kannte ich die Bedeutung des weißen Saris, aber ich kam wegen der schönen Borte nicht auf die Idee, dass dieses Kleidungstück dennoch für Witwen gemacht war. Zu allem Überfluss trug ich, außer meinem Ehering, keinerlei Schmuck. Witwen dürfen sich nicht schmücken, und die Symbolik eines Eherings kennt ein indischer Mensch auf dem Dorf nicht. Ich war also, wenn man so will, mit weißem Sari und Ehering ein interkultureller Widerspruch.
Aaya hatte mir versichert, dass das Dorf Murukambakkam in Fußnähe zur Rue La Bourdonnais liege. Es gab keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sie die Unwahrheit sprach. Ich solle einfach auf die Hauptstraße Richtung Cuddalore fahren, dann komme es gleich. Also brach ich gemütlich am Nachmittag mit meinem Fahrrad auf und strampelte los in die Richtung, die mir Aaya beschrieben hatte. Nun ist es aber so, dass ich damals eine sehr wichtige Erfahrung noch nicht gemacht hatte. Nämlich dass „Fußnähe“ oder „walking distance“ für einen verweichlichten Europäer etwas anderes bedeutet als für einen strammen Inder. Nach etwa einer halben Stunde hatte ich die Hauptstraße nach Cuddalore erreicht. Ich fuhr und fuhr und fuhr immerzu, aber der Ort kam und kam nicht. Jeder, den ich fragte, versicherte mir, dass ich auf dem richtigen Weg sei und dass es nur noch wenige Minuten dauere, dann sei ich da. Wie der Esel, dem man die Karotte vorhält, damit er weiterläuft, so trat ich im Vertrauen auf die Informationen der Menschen am Wegrand in die Pedale, bis ich wegen der Schweißbäche, die mir in die Augen liefen, anhalten musste, weil ich nichts mehr sah. Ein indisches Hero-Fahrrad ist vergleichbar mit einem Fitnessgerät, auf dem man bei einem EKG das Herz zu voller Leistung bringen will. Widerstand so eingestellt, dass sich die Pedale kaum noch bewegen lassen. Ich hatte zwar mein Notizbuch und Stifte dabei, aber kein Wasser. Als ich in Murukambakkam vom Fahrrad stieg, hatte ich den Wunsch, man möge mich stützen. Stattdessen versammelte sich eine Menge aufgeregter Kinder um mich herum, die schnellstens von ihren Müttern in die Hütten dirigiert wurden. Hilfe! Eine Witwe! Ein ernst dreinblickender Mann kam auf mich zu. Was ich wolle. Dank Konrads Unterricht konnte ich mich bereits rudimentär verständigen und nannte immer wieder, Mantra-artig, den Namen meines Informanten, Mr. Raman, und das Wort „kuttukaran“, Schauspieler. Man ließ mich auf einem freien Platz, fernab der Hütten, auf dem Boden Platz nehmen. Nach geraumer Zeit teilte man mir dann mit, Mr. Raman sei leider nicht da. Aber Germaine-Aaya hätte mich doch über ihren Mann, den Riksha-Fahrer, angemeldet. Ach so, ja. Mein Gesprächspartner verschwand und kam ewig nicht wieder. Ich wollte schon aufstehen und gehen, da schlurfte ein älterer, ausgemergelter Herr im Lunghi, dem Beinkleid, heran. Es war tatsächlich der erhoffte Herr Raman. Ich stand auf, faltete die Hände vor der Brust und gab ein paar Höflichkeitsfloskeln von mir, die mir Konrad eingetrichtert hatte. Wir setzten uns. Ich atmete tief durch, konzentrierte mich wie der Stabhochspringer vor dem Anlauf und begann, so gut es mir möglich war, einfache Fragen zu stellen. Ich hätte gerne gewusst, wann ein Drama stattfinde und wo und ob ich kommen dürfe. Hier im Dorf fänden keine Dramen statt, entgegnete mein Gegenüber. Im Nachbardorf auch nicht, überhaupt in der ganzen Gegend nicht. Ich schrieb alles schön auf. Er, Mr. Raman, sei doch Schauspieler, nicht wahr? Ob ich vielleicht einmal seine Kostüme sehen dürfte. Aber ja doch, natürlich, gerne, selbstverständlich. Ich machte mich zum Aufstehen bereit. Die Kostüme sind in einer Kiste. Aha, interessant. Ich schrieb das auf. Und diese Kiste steht im Dorf seines Bruders. Soso, aha. Ach so ist das. Und wo ist dieses Dorf? Da hinten, weit, weit weg, ganz weit. Wie heißt das Dorf? Vergessen. Vergessen? Ja, vergessen. Na gut, kann ja mal vorkommen, dass man vergisst, wo der Bruder wohnt. Ich vergesse auch so manches. Ob Kostüme wohl grundsätzlich in Kisten im Dorf des Bruders eines Schauspielers gelagert werden? Dieser Frage wollte ich bei anderen Gelegenheiten nachgehen, und so notierte ich sie, damit ich sie nicht vergaß. Tja. Was sonst noch? – Darf ich wiederkommen? Aber ja doch, jederzeit!
Inzwischen war es dunkel geworden, und das zweistündige Sitzen auf der feuchten Erde – es hatte zuvor geregnet – hinterließ nicht nur einen riesigen braunen Fleck auf meinem nagelneuen Sari, sondern ich spürte auch ein extremes Unwohlsein in meinem Bauch, das sich in den nächsten Tagen zu massiven Bauchschmerzen steigerte. Ich verabschiedete mich mit überschwänglichem Dank und wurde das Gefühl nicht los, dass Herr Raman mir nichts sagen wollte. Unterliegen diese Schauspieler einem Geheimhaltungsgebot? Würde mich nicht wundern, schließlich hatten sie es mit sakralen Texten zu tun. Oder gibt es Voraussetzungen, dass sie sprechen, die ich nicht erfülle? Vielleicht weil ich eine Frau bin? Na, das ging ja schon mal gut an. Später brachte ich in Erfahrung, dass mein Gefühl mich getrogen hatte und meine Befürchtungen unbegründet waren. Herr Raman hatte mit Straßentheater nämlich rein gar nichts zu tun. Er war Riksha-Fahrer, wie sein Freund, Aayas Mann, auch. Mal Besuch bekommen von einer Europäerin, das ist schon was und fördert das eigene Prestige in der Dorfgemeinschaft. Konnte doch kein Mensch ahnen, dass die Gute Witwe ist.
Entmutigt machte ich mich auf den Heimweg. Mein Sari war inzwischen etwas verrutscht. Aus Versehen trat ich mit einem Pedal in den Saum und stand mit abgewickeltem Stoff in meinem engen Oberteil, das wie ein BH mit kurzen Ärmeln gearbeitet ist, und meinem Unterrock am Straßenrand. Keiner scherte sich darum. Für jeden, der vorbeikam, schien es ein alltäglicher Anblick zu sein, eine Europäerin in Unterwäsche mit ihrem Fahrrad und der Kleidung um die Knöchel am Straßenrand stehen zu sehen. Ich drapierte die sieben Meter Stoff irgendwie um meinen Körper, so dass ich wenigstens СКАЧАТЬ