Название: Indisches Drama
Автор: Hilde Link
Издательство: Автор
Жанр: Культурология
isbn: 9783496030379
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Mein Gegenüber outete sich als Brahmane, als Gelehrter der obersten Schicht im Kastensystem, während ich vorhatte, Dalit, die Unterdrückten in ihren Slums, und Shudra, die untersten in der Hierarchie innerhalb des Kastensystems, zu Wort kommen zu lassen und das, was sie sagten, ernst zu nehmen und zu dokumentieren.
Vorsichtig versuchte ich eine Richtigstellung meines Berufes.
„Ich bin keine Indologin, sondern Ethnologin, und als solche...“
„Papperlapapp!“, unterbrach er mich. „Sie arbeiten in Indien, also sind Sie Indologin.“
„Ja.“ Ich nickte zustimmend. Jetzt bloß keine Beckmesserei. Gut, dann bin ich eben Indologin. Von mir aus. Hauptsache Stempel.
Mr. Patil schob seinen Stuhl zurück, zog seinen Bauch ein und holte aus der Schublade ein Buch hervor.
„Das ist die Bhagavad Gita“, rief er hocherfreut, als hätte er einen Schatz zutage gefördert. Was in gewisser Weise ja auch so war. Seine Miene hellte sich auf, die Sonne schien ihm ins Gesicht und ließ die Schweißtropfen auf seiner Nase in Regenbogenfarben glänzen.
„Bhagavad Gita!“, rief er wieder. Argwöhnisch blickte er zu mir herab, dem weißen, kastenlosen Dummchen.
„Sagt Ihnen das was?“
„Ja.“ Antwortete ich demütig. „Das ist eine der wichtigsten Schriften des Hinduismus.“
„Und wissen Sie auch, was da drinsteht?“
Bevor ich untertänigst mit „Ja“ antworten konnte, tippte er schon auf der Stelle herum, die er mir zeigen wollte. Unter dem Sanskrit-Text stand die englische Übersetzung.
„Lesen Sie!“, befahl er in einem Ton, der gut zu seiner braunen Uniform passte. „Englisch! Ihr Sanskrit tue ich mir nicht an.“ Eine weise Entscheidung.
Artig wie eine eingeschüchterte Schülerin im Englischunterricht las ich, dass man seine Pflicht erfüllen solle und nicht nach den Früchten trachten darf. Ich blickte ihn erwartungsvoll an, um meine nächste Aufgabe klassenprimushaft zu seiner Zufriedenheit erfüllen zu können.
„Was wollen Sie denn mit ihren Erkenntnissen machen?“
„Ein Buch schreiben“, antwortete ich der Einfachheit halber.
„Sie trachten also nach Früchten.“
Meine wissenschaftliche Arbeit im Lichte der Bhagavad Gita kam mir plötzlich unanständig vor, und ich schämte mich. Bestürzt blickte ich zu Boden.
„Geben Sie mir Ihre Affiliation“, befahl er so laut, als müsste er ein ganzes Regiment zu Kampfhandlungen ermutigen.
Um eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, benötigt man unter anderem das Schreiben einer indischen wissenschaftlichen Institution. Mit der Fingerfertigkeit eines Klaviervirtuosen hatte ich blitzschnell das entsprechende Dokument aus den bestimmt fünfzig Seiten umfassenden Papieren hervorgezaubert.
Mit einem „Alles dabei“ legte ich nicht ohne Stolz das Schreiben vor den verbeamteten Philosophen.
„Das ist eine Kopie. Wo ist das Original?“
„Das ist in München. Aber schauen Sie, hier ist der Original-Stempel vom Konsulat. Die Kopie ist beglaubigt.“ Ich deutete auf die drei etwas verwischten Löwen und die Unterschrift, die wie die Peitsche eines Dompteurs unter den Pfoten der Tiere schwebte.
„Wessen Unterschrift ist das?“, wollte er als nächstes wissen.
„Na, die vom zuständigen Beamten, schätze ich mal. Und das hier, das ist die Unterschrift von Herrn Dr. Murugan, vom Leiter des PICA, des Pondicherry Institute of Cultural Anthropology.“ Beflissen beugte ich mich vor, um auf die Unterschrift tippen zu können.
Herr Patil schlürfte genüsslich seinen Tee. Er schien nachzudenken.
„Ich brauche eine Beglaubigung dieses Dokuments...“ Seine flache Hand klatschte auf die Affiliation. „...von einem deutschen“, er hob den rechten Zeigefinger, „von einem deutschen! Notar.“
Wie bitte? Ich soll die Affiliation bei einem deutschen Notar beglaubigen lassen? Obwohl das Indische Generalkonsulat in München dies bereits getan hatte?
„Lassen Sie die Affiliation vom Direktor des PICA unterschreiben, seine Unterschrift hier ist ja eine Kopie, und legen Sie das Ganze zusammen mit dem Original dem deutschen Notar vor. Er wird das Dokument bestätigen“, wiederholte Herr Patil. Er wollte sichergehen, dass ich auch alles verstanden hatte, nachdem von mir keinerlei Reaktion kam. Sehr wahrscheinlich stand mir der Mund offen.
„Wo ist Ihre Geburtsurkunde? Geben Sie her!“
Geburtsurkunde?
In keinem Informationsblatt zur Antragstellung einer Aufenthaltsgenehmigung stand etwas von Geburtsurkunde. Ich war sprachlos. Normalerweise bin ich nicht auf den Mund gefallen und hätte angefangen zu argumentieren. Aber ich hatte erkannt, dass Herr Patil seinen eigenen Gesetzen folgt, völlig unabhängig von allen Visabestimmungen dieser Welt.
„Gehen Sie und kommen Sie wieder.“ Sagte er unvermittelt in meine Verwirrung hinein.
„Ich gehe und komme wieder“, antwortete ich automatisch, packte meinen Kram zusammen und verschwand.
Wie alle anderen vor mir verließ ich den Raum in gebückter Haltung und mit sorgenvoll-wütendem Gesicht.
Jetzt brauchte ich erst mal ein anständiges Mittagessen. Mit einem „Ato“, einer Scooter-Riksha mit gelbem Aufbau für die Passagiere, ließ ich mich in eine Ess-Bude fahren, die mir der Fahrer empfohlen hatte. Sie lag gegenüber dem Arbeitsamt, wo gerade Sprechchöre ihre Forderungen nach mehr Rechten in Fabriken in die Gegend schrien. Der Ato-Fahrer kam mit rein und wurde für das Abliefern der Touristin mit einem Tee belohnt. In Pondicherry sind die Fahrer in der Regel nicht unverschämt, weil es da so viele Europäer gibt, die seit Jahren in der Stadt und Umgebung leben und sich mit den Preisen gut auskennen. Man einigt sich ohne große Diskussionen auf einen bestimmten Betrag, und los geht die Fahrt.
In dem kleinen Lokal mit seinen drei nicht ganz sauberen Tischen verdrückte ich ein Masala Dossai, das ist eine Art Pfannkuchen aus Kichererbsenmehl mit Kartoffelfüllung, vom Bananenblatt. Mein Hirn befand sich in Schockstarre, und ich war nicht in der Lage, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Daran änderten selbst drei Gläser Tee nichts. Alles, was ich wusste, war, dass ich nicht wusste, was zu tun war. Trotz Mittagshitze ging ich zu Fuß den kurzen Weg die Uferpromenade am Meer entlang zum Ashram-Gästehaus. Am selben Morgen hatte ich mich, frisch aus Deutschland angekommen, dort einquartiert. Mein Zimmer war spartanisch möbliert, die beiden Betten waren durch ein fest in die Wand einzementiertes Nachtkästchen getrennt. Dadurch wird konsequent verhindert, dass es bei einem Paar zum Letzten kommt. Sri Aurobindos Vision, dass Kinder durch reine Lichtenergie gezeugt werden, würde erst in naher Zukunft Wirklichkeit werden. Bis dahin musste man das Zusammenschieben von Betten verhindern.
Ich trat auf den Balkon und schaute kurz aufs Meer, das mich so grell blendete, dass ich für einen Moment nur silber-gleißende Sternchen sah. Das dunkle Grün des Rasens СКАЧАТЬ