Название: Der kahle Berg
Автор: Lex Reurings
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Спорт, фитнес
isbn: 9783957260505
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Die Winter auf dem Gipfel des Ventoux wollen kein Ende nehmen. Mehr als 140 Tage im Jahr liegt dort oben Schnee, an 173 Tagen herrscht Frost und es kann wirklich sehr kalt werden: Die durchschnittliche Jahrestemperatur liegt zwischen 3 und 4 °C, aber die niedrigste in der kalten Jahreszeit gemessene Temperatur beträgt jedes Jahr etwa –27 °C. Selbst im Juli und August können die Temperaturen manchmal unter den Gefrierpunkt sinken. Andererseits: Während der Hitzewelle Ende Juni 2019 wurden oben auf dem Gipfel 33 °C gemessen – siehe Wetter in: Tipps, S. 177.
Im Sommer sind es am Gipfel meist zwischen 10 und 18 °C, was etwa elf Grad kühler ist als am Fuße des Berges – nicht wenige Besucher lassen sich davon überraschen.
Das Wetter auf dem Ventoux ist nicht nur eigenwillig, es kann auch in kurzer Zeit von einem Extrem ins andere umschlagen, und es ist oben immer ein Stückchen kälter als im Tal. La Provence, die lokale Tageszeitung des Vaucluse, formuliert es so: »En terme de météo, il se passe toujours quelque chose au Ventoux. Sa normalité, c’est l’excès. On y est, le plus souvent, dans le trop. Trop chaud, trop froid ou trop venté…«. Frei übersetzt: »Was das Wetter betrifft, ist auf dem Ventoux immer etwas los. Das Abnormale ist dort die Norm und meistens ist es hier ›zu‹: zu heiß, zu kalt oder zu windig.« Etwas, was insbesondere Radfahrer und Wanderer stets bedenken sollten.
Und dann versteckt sich der Gipfel auch noch an 200 Tagen im Jahr in den Wolken, auch das natürlich keine perfekten Fahrradbedingungen entlang der leeren Hänge. Obwohl, leer? Das Syndicat Mixte d’Aménagement et d’Equipement du Mont Ventoux (SMAEMV), das sich mit der Organisation von allen möglichen Dingen befasst, die sich auf dem Gipfel des Berges abspielen, schätzt, dass jedes Jahr rund 700.000 Menschen das Vaucluse von oben herab in Augenschein nehmen… Fast 70 Prozent davon sind Franzosen, die Gäste aus dem Ausland kommen hauptsächlich aus Deutschland, Belgien und den Niederlanden. Nach Angaben der Gemeinde Bedoin erreichen von diesen 700.000 Besuchern rund 130.000 den Gipfel mit dem Fahrrad.
Beeindruckende Zahlen, aber man sollte der Ehrlichkeit halber noch mal betonen, dass keine zwei Quellen die gleichen Zahlen liefern. Eine Frage der Definitionen? Von Messmethoden? Das berühmte französische Laissez-faire? Die einzige zuverlässige Schlussfolgerung, die Sie aus all den Daten ziehen können, sollte lauten: Beim kahlen Berg weiß man nie wirklich, woran man ist.
Wälder
Der Ventoux ist ein erstaunliches Phänomen. Man sollte meinen, dass es so weit im Süden überall ein mediterranes Klima mit der dazugehörigen Flora und Fauna geben würde. Im Tal stimmt das auch, aber wenn man den Berg genauer betrachtet, sieht man bemerkenswerte Dinge. Klimatisch gibt es große Unterschiede zwischen z.B. der Nord- und der Südseite – siehe Klimazonen in: Der Berg, S. 22.
Aber es gibt noch mehr Auffälligkeiten. Nur der Gipfel des Ventoux über 800 Metern besteht aus reinem Kalkstein; in den unteren Lagen wechselt der Kalkstein mit anderen Gesteins- und Bodenarten. Vor allem die Südflanke weist zahlreiche Störungen der ursprünglichen Erdschichten auf. Dies hat Konsequenzen für die Wasserversorgung und damit für die Vegetation.
Die Nordhänge sind im Allgemeinen feucht und dem kalten Mistral voll ausgesetzt. Hier leben nicht sehr viele Menschen; auf dieser Seite des Berges wachsen hauptsächlich Nadel- und Laubbäume.
Die Südhänge liegen direkt in der Sonne. Sie sind trockener und werden von den Menschen viel stärker kultiviert. Denken Sie nur an die Obstplantagen rund um Bedoin und die Weinberge, die man auf dem Weg nach Saint-Estève passiert. Das bedeutet natürlich nicht, dass man auf der Südflanke keinem Baum begegnen würde. Im Gegenteil: Wer von Bedoin zum Chalet Reynard will, kann ihr nicht entgehen, der »kleinen grünen Hölle mit schwarzem Asphaltstreifen«, wie Bart Aardema sie in seinem Berggids voor fietsers nennt, dem »Bergführer für Radfahrer«.
Kahlschlag. Die Aufforstung auf dem Berg ist noch relativ jung. In der Frühgeschichte beanspruchte der Mensch den Wald nur in sehr geringem Maße, aber als sich mehr Menschen an festen Orten niederließen und Äcker anlegten und begannen, Vieh zu halten, wurde die Nutzung des Waldes intensiver. Irgendwann war es so weit, dass Hirten mit großen Herden umherzogen, die alles auffraßen, was ihnen vor die Hufe kam. Doch hatte man offenbar begriffen, dass sich die Dinge in die falsche Richtung entwickelten, denn bereits 1549 forderte der Rektor des Comtat Venaissin, dass Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Dieser Appell wurde später regelmäßig wiederholt, doch ohne Ergebnis.
Im Laufe der Zeit wurde immer mehr Holz zum Heizen und für wirtschaftliche Aktivitäten wie den Schiffsbau, Kalkbrennereien und Eisengießereien benötigt. Die Wälder in den unteren und mittleren Lagen des Berges fielen buchstäblich der Axt zum Opfer. Infolgedessen war es um die Waldbestände bereits im 17. Jahrhundert schlecht bestellt. Denn obschon es natürlich Phasen gab, in denen sich der Wald erholen konnte, fanden diese auch immer wieder ein Ende. So forderte zum Beispiel die Französische Revolution ebenfalls ihren Tribut. Schließlich befanden sich viele Wälder im Besitz des Adels und als die Macht an die revolutionäre Bourgeoisie überging, wurden nicht nur die Adligen, sondern auch ihre Bäume einen Kopf kürzer gemacht…
Als im 19. Jahrhundert die industrielle Revolution mit ihren Dampfmaschinen den Holzbedarf nochmals enorm forcierte, war auch der Wald in den höheren Lagen des Ventoux zum Tode verurteilt: Alles wurde rücksichtslos abgeholzt. Auch wütende Waldbrände infolge von Blitzeinschlägen – ein berüchtigtes Phänomen in Südfrankreich – trugen ihren Teil dazu bei. Kurzum, Bäume wurden am Ventoux zu einer relativ seltenen Erscheinung.
Die Folgen waren katastrophal: Das Wasser, das nach Regengüssen den Berg hinabfloss, riss den Boden mit sich, junge Pflanzen hatten keine Chance und die Erosion nahm verheerende Ausmaße an. Um 1840 wuchsen auf 550 bis 1.150 Metern Höhe nur Thymian und Lavendel; lediglich hier und da stand noch eine knochige Eiche, Buche oder Kiefer – siehe Jean des Baumes in: Der literarische Berg, S. 304.
In dem Maße, in dem der Anblick des Berges im Laufe der Zeit immer kahler wurde, wurden auch die Katastrophen für Mensch und Tier immer zahlreicher und heftiger. Allein im 19. Jahrhundert schwemmte das Wasser achtmal alles von den Hängen zu Tal: Straßen, Brücken, Dörfer, Äcker, Vieh – nichts entging der zerstörerischen Kraft der Natur.
Nationales Forstgesetz (1827). Am Ende setzte sich die Vernunft durch und die Regierung intervenierte. Das Nationale Forstgesetz von 1827 legte eine Reihe von Regeln fest, die darauf abzielten, den Wald für diejenigen, die dort lebten und arbeiteten, zu erhalten. Für Bedoin bedeutete dies, dass die Nutzung von 4.473 Hektar Wald reglementiert wurde. Auch in völlig kahlen Gebieten und auf offenen Flächen im Wald konnte man nun nicht mehr einfach tun und lassen, was man wollte.
Am Mont Ventoux war es Joseph Charles Eymard, der sich im Jahr 1858 unmittelbar nach seiner Wahl zum Bürgermeister von Bedoin als erster Amtsinhaber für die Wiederherstellung des Waldes in »seinem« Teil des Berges einsetzte. Auf der Nordseite folgte Malaucène ein Jahr später seinem Beispiel.
Die Leitung der Aufforstungsarbeiten wurde Charles Labussière als »Conservateur des Eaux et Forêts à Aix en Provence« (Oberförster der französischen Forstbehörde) übertragen. Er und seine Leute hatten jedoch keine Ahnung, wie und wo sie am besten welche Bäume pflanzen sollten, um die fast 4.500 Hektar degenerierter Flächen, über die Bedoin zu dieser Zeit verfügte, zu »revitalisieren«. Die steilen Hänge waren fast kahl gewaschen und es fehlte an vernünftigen Wegen. So wurden routes forestières angelegt (sandige, mit losen Steinchen verstärkte Wege), um den Berg zugänglich СКАЧАТЬ