Название: Taiga
Автор: Sergej Maximow
Издательство: Автор
Жанр: Контркультура
isbn: 9783963114489
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Ermüdendes, nervenaufreibendes Warten. Dann endlich öffnete sich rechts von uns eine Tür, und drei Männer kamen schnellen Schritts herein, zwei von ihnen in Zivil, einer in einer khakifarbenen Militärbluse und in Reithosen. Das waren die Richter: Iwanow, Pronin, Sedych. Den Vorsitz hatte Iwanow, der in der Militärbluse.
Zügig, wie Leute, die viel zu tun haben, nahmen sie ihre Plätze ein, und nach der offiziellen Gerichtseröffnung und dem Verlesen der Anklageschrift fragte uns der Vorsitzende Iwanow der Reihe nach, ob wir uns schuldig bekannten. Nachdem er von jedem von uns ein Nein vernommen hatte, lächelte er ironisch und wechselte Blicke mit den Beisitzern.
Er dachte einen Augenblick lang nach und fragte dann:
»Warum haben einige von Ihnen sich während der Untersuchung schuldig bekannt, leugnen jetzt aber ihr Verbrechen. Zum Beispiel Sie, Angeklagter Sharow …«
Mein Kamerad, der Student Sharow, erhob sich, und erkundigte sich, nachdem er um Erlaubnis gebeten hatte, wo denn die an die Staatsanwälte gerichteten Beschwerden abgeblieben seien.
»Haben Sie denn welche geschrieben?«, fragte Pronin schnell.
»Ja.«
»Wenn Sie welche geschrieben hätten, wären sie auch da«, entgegnete Iwanow und fügte hinzu: »Worum ging es denn darin?«
»Um unkorrekte Führung der Untersuchungen, man hat uns gequält, verhöhnt und gewaltsam gezwungen, die Protokolle zu unterschreiben.«
»Hat man Sie vielleicht auch geschlagen?«, fragte Iwanow mit spöttischem Lächeln.
»Nicht nur das! Man hat uns tage- und nächtelang gezwungen, auf der Stelle zu stehen, man ließ uns nicht schlafen, steckte uns die Mündung eines Brownings in den Mund, ließ uns im Karzer hungern, und …«
»Offenbar streben Sie an, dass ich Sie wegen Verleumdung des NKWD zur Verantwortung ziehe?«
Alles klar. Der NKWD und des Sonderkollegium des Moskauer Stadtgerichts waren vom selben üblen Schlag.
Anderthalb Stunden lang versuchten die Richter uns im Kreuzverhör die »konterrevolutionäre terroristische Organisation der Studentenschaft Moskaus« nachzuweisen, und als sie begriffen, dass sie mit »Terror« und »Organisation« nicht weiterkamen, warfen sie uns alle möglichen Nichtigkeiten vor: antisowjetische Witze, zweideutige Aussagen, die wir irgendwo getätigt hatten und die irgendjemand mitgehört hatte.
»Den Zeugen Dubow bitte«, befahl Iwanow dem Wachpersonal.
Die Zeugen waren unsere letzte Hoffnung. Sie alle waren Kommilitonen, einige von ihnen waren alte Freunde aus der Kinderzeit. Würden sie dem Gericht tatsächlich nicht erklären, dass alle Angaben den Köpfen der Untersuchungsrichter entsprungen waren, und dass von ihnen selbst nur die Unterschriften stammten? Würden sie tatsächlich nicht den Mut zur Wahrheit aufbieten?
Dubow kam herein und stellte sich schüchtern, möglichst weit von uns entfernt, vor den Richtertisch.
»Zeuge Dubow, ich erinnere Sie an Ihre Angaben, die Sie bei der Voruntersuchung gemacht haben.«
Iwanow suchte die entsprechenden Seiten heraus und las den in schlechtem Russisch abgefassten, von Dubow unterschriebenen Unsinn vor. Die meisten Anschuldigungen waren gegen mich und den Ingenieur Pawlow gerichtet, aus dem der Ermittler einen »Oberst der weißen Armee und den unmittelbaren Anführer der studentischen terroristischen Organisation« konstruiert hatte.
Nachdem die Verlesung beendet war, wandte er sich wieder an Dubow:
»Bei der persönlichen Gegenüberstellung haben Sie Ihre Angaben bestätigt. Was sagen Sie der Justiz?«
»Ich … bestätige alles.«
»Haben Sie etwas hinzuzufügen?«
»Nein.«
»Fragen an den Zeugen?«
Nein. Wir hatten keine Fragen.
Alle Zeugen traten so auf wie Dubow.
Uns wird das letzte Wort gewährt.
Was sollen wir sagen? Um Nachsicht bitten? Nein. Nein!
Wir verzichten auf das letzte Wort.
Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Wir warten auf das Urteil.
Die Türen öffnen sich weit, und alle, die es wünschen, dürfen der Urteilsverkündung beiwohnen. Ach, hätte man sie doch früher hereingelassen!
Der Saal füllt sich bis zum Bersten. Ich sehe die bleichen Gesichter meiner Familie: Sie geben mir Zeichen, aber ich kann sie nicht verstehen. Ich habe einen Kloß im Hals, wende mich ab und blicke auf Stalin. Er lächelt noch immer spöttisch.
Sie werden uns verurteilen, das ist gewiss. Die Frage ist, zu wie vielen Jahren.
Es herrscht eine Stille wie auf dem Friedhof. So wie man vor einem Toten nur flüstert, so auch im Gerichtssaal vor der Verurteilung.
Die Richter betreten den Saal. Alle erheben sich.
»Im Namen der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik … Sonderkollegium … nach Prüfung der Anklage … geschlossener Gerichtsverhandlung … Anklage … Artikel … Punkt … aufgrund … … verurteilt zu … zwei Jahren Haft … vier Jahren Haft … fünf …«
Ein schlechtes Zeichen. Sie nennen zuerst die geringen Strafen, also die kurzen Haftstrafen, das heißt, am Ende kommt »Erschießen«. Von dieser Regel wissen wir seit den ersten Tagen unserer Haft.
»… Tod durch Erschießen.«
Eine Sekunde lang herrscht nach der Urteilsverlesung Stille im Saal, dann – Lärm, Schreie, Weinen … Ich wende mich um und blicke auf meine Mutter. Sie steht an die Wand gelehnt und hat die Augen geschlossen. Vater hält ihre Hände und sagt etwas. Seine Lippen sind aschgrau.
Das Wachpersonal stößt die Menge auseinander und führt uns ab nach unten, in die Zelle.
Ich suche mir zwischen den vielen Inschriften an der Wand eine möglichst saubere Stelle und ritze mit einem Nagel meinen Namen ein, daneben: »Fünf Jahre.« Dann übergebe ich den Nagel meinen Kameraden. Der Ingenieur Pawlow schreibt neben seinen Namen ruhig und schwungvoll: »Erschießung.«
Man trennt ihn von uns und führt ihn in die Todeszelle.
***
Das gelbe Licht der Petroleumlampe flackert leicht, seltsame Schatten kriechen über das Zeltdach. Ich liege mit offenen Augen da: zerschlagen, krank, innerlich leer, zwischen sterbenden Menschen, fern von meiner Familie, und denke an mein Leben zurück – daran, was für ein vergeudetes Leben es gewesen ist.
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