Название: Taiga
Автор: Sergej Maximow
Издательство: Автор
Жанр: Контркультура
isbn: 9783963114489
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Ein paar Sekunden lang war es still, dann knackten wieder Zweige unter jemandes Schritten. Instinktiv ergriff ich meinen dicken Knüppel. Aus der Finsternis tauchten zwei diffuse Gestalten auf.
»Potapytsch!«, rief eine Männerstimme leise.
Ich erhob mich zu voller Größe.
Die Gestalten kamen schnell auf mich zu. Es waren ein Mann und eine Frau.
»Hier ist kein Potapytsch …«, erwiderte ich.
»Pst, leise!«, bat der Mann. »Wo ist er denn?«
»Gestorben, gestern.«
»Gestorben?«, fragte er verwundert. »Hörst du, Marussjka?«
»Schade um ihn … war ein guter Mensch, der Alte«, sagte die Frau gähnend.
Jetzt konnte ich sie genau sehen. Er – ein junger Bursche in weiter Hose, die er, wie bei den Dieben üblich, in die kurzen Stiefel gesteckt hatte. Sie – ein spitznasiges Mädchen in einer lagereigenen gesteppten Wattejacke. Unterm Arm trug sie etwas Großes, in Papier Gewickeltes. Ihn kannte ich flüchtig aus dem Lager. Ein Bahndieb, wegen seines hübschen Gesichts trug er den Spitznamen Petjka Krasjuk.
»Und – haben sie Potapytsch da reingelegt?« Marussja wies auf die Leichenkammer.
»Ja … Er liegt auch da.«
Jemand kam aus einer der Baracken, schlug die Tür hinter sich zu und ging laut fluchend weg. Meine Besucher duckten sich.
»Der Kommandant, der Lump, schnüffelt überall rum. Kaum zu glauben, sogar in Baracke drei.«
In dem Lichtstreifen zwischen den Baracken war die schwarze Silhouette eines Menschen vage zu erkennen. Als sie hinter der Ecke verschwunden war, erhob sich Petjka Krasjuk, schob seine Mütze nach hinten, kam ganz nahe an mich heran und flüsterte:
»Hör mal, du, äh, wie heißt du noch mal, jetzt bist du doch hier, für Potapytsch? Als Wächter?«
»Genau, als Wächter.«
»Dann hilf du uns … Die Sache ist die … Die Kommandanten fischen, nirgendwo kann man mal mit nem Weib hin … verstehst du … das ist so … in’n Karzer wegen so ’ner Gans hab ich keinen Bock … Und in der Baracke erwischen sie einen hundertpro. Also, du, äh, lass uns hier rein zu dir, verstehst du … Mit Potapytsch lief das wie geschmiert, und der hatte da auch sein Gutes von … Marussja, gib mal her.« Er nahm das Päckchen und schob es mir in die Hand. »Hier hast du ein Schwarzbrot, zwei Kilo … ja was glotzt du so? Verlier bloß nicht die Fassung …!«
Ich hatte begriffen, was sie von mir wollten, und konnte vor Verblüffung kein Wort herausbringen.
»Alles klar?«, fragte Petjka Krasjuk. »Abgemacht? Komm, Marussja.«
»Halt, stopp«, hielt ich sie zurück, »das kann ich nicht … gestatten.«
Drohend kam er mir näher und zückte das Messer, das er in der Tasche trug. Die Klinge blitzte schwach auf.
»Du willst nicht? Sei kein Dummkopf. Hier werde ich mich mit dir vielleicht nicht anlegen, aber morgen in der Baracke stech ich dich ab wie das letzte Stück Vieh. Klaro? Komm, Marussja!«
Leichtfüßig liefen sie die Lehmstufen hinab, öffneten die Tür und verschwanden im Leichenhaus.
Verwirrt stand ich da und hielt das Schwarzbrot; es brannte mir in der Hand.
Aus dem Leichenhaus erklangen das Kichern der Frau und Petjkas unterdrücktes Flüstern:
»Warte, ich zieh ihn an den Beinen weg, dann ist mehr Platz; hat sich breit gemacht, was!«
Ich setzte mich auf meinen Reisighaufen und schleuderte zum ersten Mal im Leben ein Brot auf die Erde.
Der Mond tauchte auf und erfüllte die Taiga mit schwachem, milchig-blauem Licht. Die Birken begannen wieder zu leuchten, als sei ein weiterer Toter hinzugekommen. Durchdringend wie ein Klageweib rief die Eule. Ein leichter Wind raschelte über das trockene Gras hinweg und trug die braunen Blätter mit sich; die hundertjährigen Fichten schwangen ihre zotteligen Zweige wie schwere Weihrauchwedel.
Die Geheimnisse von Leben und Tod verbanden sich zu einem dämonischen, disharmonischen Akkord.
ODYSSEE EINES ARRESTANTEN
Ich liege im Lazarett des Außenlagers Rom-Ju. Vor einer Stunde hat mir ein kleiner, fröhlicher Feldscher freimütig erklärt, dass meine Tage wohl gezählt seien und ich es nicht mehr lange machen würde. Ich merke auch selbst, dass es schlecht um mich steht. Außenlager 3 hat mir den Rest gegeben.
Die kleine Nachtlampe brennt und beleuchtet die hölzernen Pritschen mit ihrem trüben Licht.
Es ist ein Uhr nachts. Hinter der Zeltwand rauscht leise die Taiga und singt uns allen die Totenmesse.
Vielleicht bringen sie mich morgen schon auf den Friedhof von Rom-Ju. Mein kurzes Leben – unsinnig und unnütz. Sterben mit zweiundzwanzig!
Mit schrecklicher Klarheit denke ich an den Beginn meiner Häftlingskarriere zurück.
Ljubjanka 2
Mein Herz schlug heftig, als ich in Begleitung zweier NKWD-Leute vor dem Eingang der Ljubjanka 2 aus dem Auto stieg. Gleich würde ich an zwei statuengleichen Wachposten vorbei durch die Tür gehen, in jenes berüchtigte Gebäude, über das in jeder Moskauer Familie im Flüsterton alles Mögliche erzählt wurde.
Es war April, ein klarer, warmer Aprilmorgen. Langsam begann es hell zu werden. Die Durchsuchung hatte die ganze Nacht gedauert, und die Gesichter der beiden Beamten erschienen morgendlich unangenehm-bleich. Hier und da waren die ersten Passanten zu sehen. Zwei von ihnen, die gerade am Eingang vorbeigegangen waren, blieben für einen kurzen Moment stehen, als sie unser herankommendes Auto bemerkten, warfen einen erschrockenen, teilnahmsvollen Blick auf mich und eilten sogleich weiter: Es war nicht ratsam, sich lange vor Gebäuden wie der Ljubjanka 2 aufzuhalten.
Ljubjanka 2 war das ehemalige Gebäude der Versicherungsgesellschaft »Rossija«, das die Bolschewiki in ein ausgeklügeltes Gefängnis verwandelt hatten. Es steht mitten im Herzen Moskaus, direkt im Zentrum gegenüber der früheren Mauer von Kitai-Gorod. Den vergleichsweise angenehmen Empirestil, in dem das Haus erbaut worden war, hatte man durch die drei oberen Etagen sozialistischer Geschmacklosigkeit verhunzt, die, wenn ich nicht irre, schon unter Jagoda aufgestockt wurden. Ihm waren die Mauern der Besitztümer seines Vorgängers Menschinski wohl zu eng.
Dieser »staatliche Horror« also erwartete mich.
Eine schwere, bluttriefende Atmosphäre umgibt dieses Golgota. Nur aus den Augenwinkeln schauen die Menschen in seine Richtung, wagen es kaum, den verschüchterten Blick zu heben. Begegnet ihnen auf dem Platz einer der weit ausholend, frech voranschreitenden Tschekisten mit blutroten Kragenspiegeln und einer dicken Aktentasche voller »Rechtsfälle«, fragen sie sich: Vielleicht ist er es? Mein künftiger Peiniger, oder der meines Vaters, meines Bruders, meiner Mutter? Vielleicht ist er es, der den Abzug des Revolvers drücken und mit einem Genickschuss das Leben eines hilflos СКАЧАТЬ