Название: Taiga
Автор: Sergej Maximow
Издательство: Автор
Жанр: Контркультура
isbn: 9783963114489
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»Wie geht’s dem jungen Leben?«
»Geht so«, passte ich meinen Ton dem seinen an.
»Sehen Sie nur, draußen ist Frühling, Mai, Blumen, Mädchen. Sie aber sitzen und werden weiter sitzen, bis Sie gestehen.«
»Das ist unlogisch. Wenn ich irgendwas gestehe, sitze ich noch länger.«
»Unsinn! Das hier ist die Geheime Politische Abteilung des NKWD und nicht irgendeine Literaturkneipe. Hier geht alles nach Gesetz. Also, wie war Ihre Beziehung zu Dubow?«
»Gut.«
»Keine offenen persönlichen Rechnungen?«
»Nein.«
»So aufschreiben?«
»Können Sie.«
»Unterschreiben Sie!«
Ich unterschreibe.
»Jetzt nehmen wir eine Gegenüberstellung vor«, teilt mir der Ermittler lächelnd mit und drückt einen Knopf, der sich seitlich an seinem Schreibtisch befindet.
Aha, deshalb also wurde mir der Verband abgenommen.
Ich bin sehr aufgeregt, nehme meinen Herzschlag wahr. Gleich würde ich meinen Kommilitonen sehen, mit dem mich eine langjährige gute Freundschaft verbindet. Ich bin mir sicher, dass er nicht gegen mich aussagen wird, doch ein Treffen mit ihm unter solchen Umständen geht mir zu Herzen. Ungeduldig schaue ich auf die Tür.
In Begleitung eines Wachsoldaten betritt der bleiche Dubow den Raum; mit zitternden Händen knetet er seine Mütze und schaut den Ermittler erschrocken an, als würde er mich gar nicht sehen. Aufgrund des tadellos weißen Hemdkragens, der Krawatte und seines glattrasierten Gesichts begreife ich, dass er in Freiheit ist.
»Bürger Dubow«, sagte der Ermittler, »in Ihren Angaben haben Sie ihn (der Ermittler wies auf mich) letztens als Volksfeind beschrieben. Bestätigen Sie dies in seiner Anwesenheit.«
»Ja … ja«, stotterte Dubow verlegen.
»Was heißt hier ja, ja?«, unterbrach ihn der Ermittler wütend. »Berichten Sie ihm und mir ausführlich von seinen konterrevolutionären Aktivitäten!«
»Ja, ein Volksfeind«, fing Dubow an und verstummte. Sein tränenerfüllter Blick begegnete meinem, senkte sich schnell und erstarrte auf meiner nackten Schulter, die durch das zerrissene Hemd zu sehen war. Ich begriff, dass sich vor mir ein zuvor eingeübtes Theaterstück abspielte.
»In diesem Fall werde ich Sie daran erinnern«, sagte der Ermittler. »Hören Sie zu.«
Er begann eine umfangreiche Aufzählung meiner »Verbrechen« vorzulesen. Ein Großteil davon waren meine »Pläne, innerhalb der Moskauer Studentenschaft einen terroristischen Stoßtrupp gegen die Führer der kommunistischen Allunionspartei der Bolschewiki zu organisieren«. Diese Zeugenaussage endete ungefähr so: »In meiner Verantwortlichkeit eines ehrlichen sowjetischen Studenten erkläre ich, dass wir es mit einem ideologischen, heimtückischen und überzeugten Volksfeind zu tun haben.« Es folgte die Unterschrift.
Der Sprachstil, die stümperhaften Wendungen machten mir sofort klar, dass dies alles der Ermittler selbst formuliert hatte (Dubow war ein sehr intelligenter Mensch), und dass von Dubow nur die Unterschrift stammte. Ganz offensichtlich hatte man ihn vor ein Ultimatum gestellt: Entweder du unterschreibst oder du wirst selbst in der Ljubjanka sitzen. Dubow hatte natürlich Ersteres gewählt. Selbstverständlich musste er auch unterschreiben, das Ganze vertraulich zu behandeln.
Noch ein Detail: Auf den Seiten, die die Zeugenaussage meines Kameraden enthielten, befanden sich zwischen den Zeilen große Leerstellen. Diese Leerstellen würde der erfinderische Ermittler später mit selbst gebasteltem »Material« ausfüllen. Als Dubow das Dokument unterschrieb, konnte er das natürlich nicht wissen.
»Sehen Sie!«, sagte der Ermittler triumphierend. »Sogar Ihr bester Freund sagt Ihnen ins Gesicht, dass Sie ein Feind der Sowjetmacht sind. Sie aber wollen das nicht gestehen. Wie dumm von Ihnen! Dubow, unterschreiben Sie bitte Ihre Angaben. Und Sie, was sagen Sie zu Ihrer Rechtfertigung?«, wandte er sich wieder an mich.
Ich schwieg nachdenklich. Das hatten sie geschickt eingefädelt! Meine Rechtfertigung konnte ich nicht einmal mehr mit Rachegefühlen begründen: Ich hatte schließlich unterschrieben, dass ich mit Dubow keine Rechnung offen hätte. Und ich würde es auch nie fertigbringen, derart dreist zu lügen. Doch wie sonst konnte ich mich rechtfertigen?
»Ich werde vor Gericht die Wahrheit sagen. Sie haben ihm Angst eingejagt und ihn gezwungen, den ganzen Unsinn zu unterschreiben.«
Der Ermittler brach in Lachen aus und drückte den Klingelknopf.
»Ha! Und Sie denken, dass man Ihnen glauben wird? Sie sind ein sonderbarer Mensch …«
Ich sah Dubows gebeugter Gestalt nach, als dieser in Begleitung des Wachsoldaten den Raum verließ, und dachte an jenen fröhlichen, klugen, ehrlichen, wunderbaren Kameraden zurück, der er einmal gewesen war. Sollte ich ihn jetzt anklagen, weil er mein Leben zerstörte, um seines zu retten? Und würde es mir besser gehen, wenn zu den sieben oder acht Millionen politischen Gefangenen noch einer mehr hinzukäme? Tief in meinem Herzen rührte sich ein weiterer Gedanke, eine Hoffnung: Vielleicht würde er ja vor Gericht seine Aussagen zurücknehmen und den Richtern mutig erzählen, wie man ihn gezwungen hatte, diese schreckliche, üble Verleumdung zu unterschreiben.
Durch das Gitter des Fensters drang frühlingshafter, süßer Pappelduft in die Zelle.
Der Prozess
Gerichtssaal Nr. 4 des Moskauer Stadtgerichts.
Wir sitzen in der ersten Stuhlreihe. Direkt vor uns steht auf einem Podest ein großer Tisch, dahinter drei leere Armstühle; der mittlere ist höher und solider gebaut als die anderen, das ist der Richtersessel. Von der Wand blickt spöttisch, mit leicht zusammengekniffenen Augen Stalin auf uns herab.
Außer uns, den Angeklagten, befinden sich im Saal noch vier Wachsoldaten, die unbeweglich hinter uns stehen, sowie die Protokollantin, ein stupsnasiges, rotwangiges Mädchen, das links von uns an einem gesonderten Tischchen in irgendwelchen Papieren wühlt.
Aus dem Warteraum klingt Stimmengewirr. Dort sind unsere Angehörigen und auch einfach nur fremde Menschen, die alle auf unser Urteil warten. Die Fremden warten nicht aus purer Neugier, sondern um eine ungefähre Vorstellung davon zu bekommen, welches Schicksal ihre Brüder, Väter, Töchter erwartet, die noch in der Ljubjanka oder der Butyrka einsitzen und noch nicht an der Reihe sind, selbst vor dem »gerechtesten aller Gerichte, dem proletarischen Gericht« zu erscheinen.
Über uns richten wird bei geschlossenen Türen ein spezielles Kollegium, denn politische »Verbrecher« werden im Land der Sowjets unter Ausschluss der Öffentlichkeit verurteilt.
Das stupsnasige Mädchen erkundigte sich, ob wir mit der Anklageschrift bekanntgemacht worden seien. Als wir verneinten, reichte sie uns einen dicken Hefter: 352 Seiten!
Wir blätterten darin. Vernehmungsprotokolle, Protokolle der Zeugenaussagen, Fotos. Das war alles. Seltsam: es fehlten sämtliche an die Staatsanwälte gerichteten Beschwerden über die Misshandlungen der Ermittler, denen wir während der Verhöre ausgesetzt waren. Und wir hatten viele solcher Beschwerden eingereicht: СКАЧАТЬ