Название: Taiga
Автор: Sergej Maximow
Издательство: Автор
Жанр: Контркультура
isbn: 9783963114489
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»Wie kannst du denn … Sag bloß, du weißt das nicht …«
Der Popka kam herein und befahl mir, mich schleunigst fertig zu machen. Ich verabschiedete mich von Kopylow und Parfjonow und verließ die Zelle. Den Ersteren sollte ich nicht wiedersehen; erst acht Monate später, als ich in einer Zelle der Butyrka saß und mich durch Klopfzeichen mit einem Kameraden verständigte, erfuhr ich, dass Kopylow »zum Mond gefahren« war. Parfjonow begegnete ich im Gefängniskrankenhaus. Später erzählte man mir, dass man auch ihn erschossen habe.
Man führte mich in den Korridor und versetzte mich nach Einzelzelle Nr. 8. Kopylow rief ihnen nach: »Die Hochschule hat er schon absolviert! Ihr kommt ein wenig zu spät!«
Sie drohten ihm.
Die Zelle war klein, ohne Fenster. Irgendwo über mir glimmte trüb ein verstaubtes Lämpchen. Erschöpft zwängte ich mich in den Gang zwischen Wand und Eisenbett und fiel auf das Eisennetz.
Am Ende des Korridors hämmerte jemand verzweifelt gegen seine Tür und schrie: »Ich kann nicht mehr! Lasst mich raus, um Himmels willen, ich habe eine Frau und Kinder! Ich bin doch kein Verbrecher! Ich habe nichts getan, niemanden umgebracht, niemanden ausgeraubt!!«
Möglicherweise wurde seine Tür geöffnet, die Stimme erklang lauter: »Mein Ehrenwort, ich bin kein Verbrecher! Was macht ihr?! Au, meine Hand, meine Ha-and! Lasst sie …!« Offenbar hatte man ihm die Hände verdreht und den Mund gestopft.
Wieder herrschte Stille.
Ich war schrecklich müde. Aber (und auch das hat Methode in der Ljubjanka: den Menschen keinen Schlaf zu lassen) zehn Minuten später wurde ich wieder abgeholt.
Ich gehe zum ersten Verhör.
Ein Fahrstuhl. Fünfter Stock. Raum 517.
Wir haben April 1936. Zur gleichen Zeit werden im selben Gebäude die für einen grandiosen Prozess von staatstragender Bedeutung vorgesehenen Sinowjew und Kamenew und ihre vierzehn »Mittäter« verhört.
Das Verhör
Ein gut ausgestattetes, großes Arbeitszimmer. Gleich rechts neben der Tür ein weiches Ledersofa, links ein hoher Eichenschrank, der fast bis zur Decke reicht, direkt am Fenster zwei zusammengeschobene solide Schreibtische, die sich im glänzenden Parkett spiegeln; das vergitterte Fenster geht auf den Innerhof der Ljubjanka hinaus. Auf den Tischen Tintenfässer und massenweise »Beweisstücke« gegen mich: Handschriften, Fotos, Briefe, die man bei mir während der Durchsuchung konfisziert hat.
Am rechten Schreibtisch sitzt der Ermittler, ein gedrungener Mensch mittleren Alters in einer Uniform mit Schulterriemen. Er runzelt die dichten Brauen, während er meine »Beweisstücke« betrachtet. Nachdem er kurz zu mir aufgesehen hat, blättert er weiter in den Papieren. Auch der Assistent des Ermittlers, ein junger Bursche, der am zweiten Tisch sitzt, unterbricht seine Beschäftigung, die Reinigung eines brünierten Brownings, nicht.
Auf ein Zeichen des Ermittlers hin verließ der Popka den Raum und schloss hinter sich leise die Tür. Ich stand, die Hand auf der Lehne eines freien Sessels, und wartete. Gleich würde sich alles klären und natürlich würden sie mich nach Hause entlassen. Ich war doch kein Verbrecher, ich hatte ein reines Gewissen. Hier lag einfach ein ungeheuerliches Missverständnis vor.
Etwa zehn Minuten vergingen. Irgendwoher, vielleicht vom Ljubjanskaja-Platz, drangen dumpfes Autohupen und der mir nur zu gut bekannte vielstimmige Stadtlärm zu uns.
»Nehmen Sie die Hand vom Sessel«, verlangte der Ermittler mit leiser Stimme.
Gehorsam nahm ich sie herunter, obwohl ich mich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten konnte. Wollte er mich etwa nicht auffordern, mich zu setzen?
Der Ermittler warf seine Feder plötzlich hin, lehnte sich zurück und blickte mir lange unverwandt, prüfend in die Augen.
»Nu-un?«, sagte er dann gedehnt.
»Wem und welchen Umständen ich meine Verhaftung auch zu verdanken habe, Genosse Ermittler …«, sprach ich ihn an, wie ich es im Umgang mit Sowjetbürgern gewohnt war.
»Ich bin dir kein Genosse!«, brüllte er dazwischen, hieb mit der Faust auf den Tisch und fügte dann leiser hinzu: »Wofür hat man dich verhaftet? Immer dieselben Ausreden! Hier, unterschreib!«
Er gab mir ein Papier. Ich lese:
»Anklage wird erhoben wegen Verletzung des Artikels 58 Punkt 8, 10 und 11 des Strafgesetzbuches der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik.« Das bedeutete die Begehung terroristischer Handlungen gegen die Führer der Partei der Bolschewiki, konterrevolutionäre Tätigkeit und antisowjetische Agitation. Ein hübsches Sträußchen! Wenn das alles bestätigt würde, wäre mir der »Mond« sicher. Darunter stand: »Gelesen.« Nun gut, wenn nur das zu bestätigen ist, unterschreibe ich. Der Ermittler reißt mir das Blatt eilig aus der Hand und legt mir einen ganzen Stapel vollgeschriebener Blätter vor, die vor Fehlern nur so strotzten.
»Protokoll der Voruntersuchung in der Strafsache Nr. …«, stand auf dem Titelblatt. Seite eins begann folgendermaßen:
»Frage: Gestehen Sie, Mitglied einer konterrevolutionären terroristischen Studentenorganisation Moskaus zu sein?
Antwort: Ich gestehe. Zu unseren Zielen gehörte …«
Dann folgte in meinem Namen auf zwanzig oder dreißig Seiten eine Aufzählung aller geplanten Verbrechen.
»Nein, das kann ich nicht unterschreiben«, sagte ich und legte das »Protokoll« auf den Tisch.
»Warum?«, erkundigte er sich mit vorgespielter Verwunderung.
»Weil es nicht stimmt, ich bin in keiner solchen Organisation.«
Er sprang auf, beugte sich über den Tisch und brüllte mir, vor Erregung schäumend, ins Gesicht:
»Ne-ein?! Und, soll ich dir hundert Zeugen anführen? Ihr seid alle verhaftet, alle haben sie gestanden, sind alle hier, hie-er! Hier kann sich keiner rausreden! Wir kennen jeden eurer Schritte! Wo warst du am 5. Januar? In Makarows Wohnung! Worüber habt ihr gesprochen? Darüber, dass die sowjetische Studentenschaft die beste Plattform für die Konterrevolution darstellt … und dann, warst du nicht mit Freunden auf Sauftour im Metropol und hast die Gedichte des weißen Banditen Gumiljow rezitiert? Und bist nicht am 13. Februar mit dem Dichter Vira aus der Redaktion der ›Mursilka‹ gekommen und hast auf dem Roten Platz aufs Leninmausoleum gezeigt und einen antisowjetischen Witz erzählt? Na? So war’s doch? Wir wissen alles!«
Im ersten Augenblick brachte mich ihr Wissen um die Einzelheiten meines Lebens völlig aus der Fassung, doch dann wurde mir klar, dass er im Grunde nur reine Fakten wusste: wo ich hingegangen war, mit wem was ich getan hatte; die Inhalte meiner Gespräche hingegen waren entweder erfunden oder völlig entstellt.
Ein paar Fragen folgten, dann bot der Ermittler an:
»Setzen Sie sich doch. Möchten Sie rauchen? Nein? Schade. Soll ich was zum Essen bringen lassen?« Er streckte die Hand zu einem Knopf an der Wand aus. »Auch nicht? Schade. Nutzen Sie die Chance zu rauchen oder zu essen, es ist vielleicht Ihre letzte! СКАЧАТЬ