»Da hast du sicher recht,« stimmte Miß Vivian Herbert lachend bei.
Sie ließ ihn den ganzen Abend nicht mehr von ihrer Seite, und der Kreis, dessen Mittelpunkt die beiden waren, that sich durch besondre Heiterkeit hervor. Cedrik konnte sich nachher nicht mehr genau darauf besinnen, wie es gekommen war, allein plötzlich war er mitten drin, den Fackelzug bei der Präsidentenwahl zu schildern und von seinen Freunden Mr. Hobbs und Dick und Bridget zu erzählen, und schließlich zeigte er mit großem Stolz Dicks Abschiedsgeschenk – das rotseidene Taschentuch.
»Ich habe es heute zu mir gesteckt,« erklärte er wichtig, »weil Gesellschaft ist und ich denke, es würde Dick freuen, wenn ich's in Gesellschaft trage.«
Mit so großem Ernst und so inniger Zärtlichkeit sah er auf das für Dicks Geschmack nicht gerade empfehlende feuerfarbene Ding mit den Hufeisen, daß seine Zuhörer ihr Lächeln unterdrückten.
Aber trotzdem Cedrik so viel Beachtung zu teil wurde, machte er sich, wie der alte Herr vorher gesagt hatte, nie unangenehm bemerklich. Er konnte schweigen und ruhig zuhören, wenn andre sprachen, und so ward seine Gegenwart keinem Menschen lästig. Wenn er dann von Zeit zu Zeit neben seinem Großvater stand oder saß und ihm mit dem Ausdruck hingebendster Bewunderung zuhörte, glitt ein leises Lächeln über mehr als ein Gesicht. Einmal hatte er sich so nahe an seinen Stuhl gedrängt, daß seine Wange des Grafen Schulter berührte, und dieser lächelte selbst, als er die allgemeine Aufmerksamkeit auf den kleinen Vorgang gerichtet sah. Wußte er doch zu genau, was die Zuschauer dabei dachten, und er fand entschieden eine geheime Befriedigung darin, daß die Leute sahen, welch' gute Kameraden er und der Junge, der das landläufige Urteil über seinen Großvater so gar nicht teilte, geworden waren.
Mr. Havisham war am Nachmittag schon erwartet worden, schien sich aber auffallenderweise verspätet zu haben, was ihm in den vielen, vielen Jahren, die er in Schloß Dorincourt verkehrte, noch nicht ein einziges Mal begegnet war. Er kam erst, als man eben im Begriffe stand, zu Tische zu gehen. Als er den Hausherrn begrüßte, sah ihn dieser mit einigem Staunen an, denn der gemessene, ruhige Mann war sichtlich erregt und das scharfgeschnittene alte Gesicht war blaß.
»Ich bin durch ein unvorhergesehenes Ereignis aufgehalten worden,« erklärte er dem Grafen seine Verspätung in leisem Tone.
Aufgeregt zu sein, lag so wenig in der Art des methodischen alten Geschäftsmannes, wie Zuspätkommen, und doch machte er sich heute dieser beiden Dinge schuldig.
Bei Tische aß er kaum einen Bissen, und mehrmals, wenn er von seiner Nachbarin angeredet wurde, schien er aus tiefem Nachsinnen aufzufahren. Als Fauntleroy beim Nachtische hereinkam, blickte er ihn ein paarmal mit einer gewissen Scheu und offenbar peinlich erregt an, was Cedrik wunderte, denn er und Mr. Havisham standen sonst auf sehr gutem Fuße und pflegten sich mit freundlichem Lächeln zu begrüßen, aber an diesem Abend schien der Advokat kein Lächeln fertig bringen zu können.
Er war überhaupt nicht einen Augenblick im stande, den Gedanken an die peinvollen Mitteilungen, die er heute nacht noch dem Grafen zu machen gezwungen war, in den Hintergrund treten zu lassen, wußte er doch zu genau, welchen Stoß die befremdliche Nachricht, deren Ueberbringer er war, dem Herrn des Hauses versetzen und wie furchtbar dieselbe die gesamte Lage der Dinge verwandeln werde. Wenn er die festlich geschmückten herrlichen Räume und die glänzende Gesellschaft überflog, von welcher er besser als irgend jemand wußte, daß sie nur versammelt worden war, um den kleinen Blondkopf sich an seines Großvaters Knie schmiegen zu sehen – wenn er den alten Mann ansah, mit dem Ausdruck befriedigten Stolzes auf den harten Zügen, und den kleinen Lord Fauntleroy mit dem sonnigen Kinderlächeln, da fühlte er sich tiefer erschüttert, als es sich für solch einen eingetrockneten alten Juristen geziemte.
Auf welche Weise das feierliche, üppige Diner zu Ende ging, hätte er nicht angeben können; er war wie in langem Traume befangen und fühlte nur mehr als einmal den Blick des Grafen fragend auf sich ruhen.
Schließlich erhoben sich die Herren, um sich zu den schon nach dem Salon vorangegangenen Damen zu begeben, wo sie Lord Fauntleroy neben Miß Vivian Herbert, der gefeiertsten Schönheit der diesjährigen Londoner Saison, sitzend fanden.
»Du bist so gut gegen mich, ich danke dir schön,« hörte man die helle Kinderstimme sagen. »Ich bin noch nie bei einer Gesellschaft gewesen, und ich habe mich so furchtbar gut unterhalten.«
Er hatte sich so »furchtbar gut« unterhalten, daß, als die jungen Herren sich nun abermals um Miß Herbert scharten und fröhlich geplaudert wurde, ihm allmählich, trotz seines angestrengten Bestrebens, die hin und her fliegenden Witzworte zu verstehen, die Aeuglein zufielen. Zwei- oder dreimal schon waren die Augenlider müde herabgesunken, aber immer hatte Miß Herberts leises sympathisches Lachen ihn veranlaßt, wieder aufzublicken und sie anzusehen. Er war auch ganz entschlossen, um keinen Preis einzuschlafen, aber weil zufällig ein großes gelbes Atlaskissen hinter ihm lag, senkte sich das Köpfchen immer tiefer auf dasselbe, und schließlich fielen die braunen, glückstrahlenden Augen fest zu. Er konnte sie auch nur ein ganz klein wenig aufmachen, als, wie es ihm vorkam, nach langer, langer Zeit ein leichter Kuß seine Wange streifte.
»Gute Nacht, kleiner Lord Fauntleroy,« flüsterte Miß Vivians süße Stimme an seinem Ohr. »Schlaf wohl.«
Am andern Morgen wußte er nicht mehr, daß er mühsam die Augen halb geöffnet und schlaftrunken gemurmelt hatte: »Gute Nacht – ich bin so froh, daß ich dich gesehen habe – du – du bist – – so schön –,« nur ganz dunkel schwebte es ihm vor, daß er die Herren noch einmal hatte lachen hören, ohne zu wissen weshalb.
Kaum hatte der letzte Gast sich empfohlen, als Mr. Havisham seinen Platz am Kamin verließ und zu dem Sofa trat, wo der Knabe schlafend lag. Der kleine Lord Fauntleroy hatte sich höchst wohlig hingestreckt, die übereinandergeschlagenen Beinchen hingen über das Sofa herunter, der eine Arm war leicht um das Köpfchen gelegt, die Fülle der blonden Locken bedeckte das weiche, gelbseidene Kissen, und der rührende Friede eines gesunden, traumlosen, tiefen Kinderschlafes lag auf dem rosig angehauchten Gesicht. Es war des Ansehens wohl wert, das kleine Bild!
Mr. Havisham blickte lange darauf hin und rieb sich öfter als sonst das glatte Kinn mit der schmalen Hand, und der Ausdruck großer Bekümmernis trat immer deutlicher auf seinen Zügen hervor.
»Nun, Havisham,« fragte die rauhe Stimme des Grafen, »um was handelt es sich? Daß etwas vorgefallen sein muß, ist klar, heraus mit der Sprache.«
Mr. Havisham wandte sich langsam und zögernd von dem schlafenden Kinde ab.
»Es sind schlimme Neuigkeiten, Mylord, deren Ueberbringer ich zu meinem größten Leidwesen sein muß, höchst betrübende Dinge.«
Dem Grafen war schon den ganzen Abend unheimlich zu Mute gewesen, so oft er seinen Anwalt angesehen hatte, und dies beängstigende Gefühl machte ihn reizbar und verstimmt.
»Weshalb starren Sie nur immer den Jungen an?« rief er heftig. »Den ganzen Abend haben Sie ihn im Auge behalten, als ob – so hängen Sie doch nicht immer den Kopf über ihn hin wie ein unheilverkündendes böses Omen. Mit Lord Fauntleroy werden doch Ihre Neuigkeiten nichts zu schaffen haben.«
»Mylord, ich will ohne Umschweife zur Sache kommen. Gerade auf Lord Fauntleroy beziehen sich meine Mitteilungen, und wenn dieselben sich als richtig erweisen, so ist der Knabe, der hier schläft, überhaupt nicht Lord Fauntleroy, sondern einfach Cedrik Errol. Und der wirkliche Lord Fauntleroy ist ein Kind Ihres Sohnes Bevis und befindet sich in diesem Augenblick in einem Hotel garni in СКАЧАТЬ