»Jawohl, wir vertragen uns leidlich,« erwiderte der Graf. »Komm 'mal her.«
Fauntleroy krabbelte in die Höhe und kam.
»Gibt es noch irgend etwas, was dir fehlt, was du gern haben möchtest?«
Die großen braunen Augen hefteten sich plötzlich nachdenklich und ernsthaft auf den Großvater.
»Nur eins,« erwiderte er bestimmt.
»Und das ist?«
Fauntleroy sammelte sich einen Augenblick, er hatte nicht umsonst so viel über die Sache nachgedacht.
»Herzlieb,« sagte er dann halblaut.
Der Graf zuckte ein wenig mit den Augenbrauen.
»Du siehst sie ja fast jeden Tag,« sagte er, »genügt das nicht?«
»Früher sah ich sie den ganzen Tag,« versetzte das Kind, »und wenn ich zu Bett gegangen bin, hat sie mich geküßt, und morgens war sie bei mir, wenn ich aufgewacht bin, und wenn wir uns etwas sagen wollten, konnten wir's gleich thun und brauchten nicht zu warten.«
»Vergißt du denn deine Mutter nie?« fragte der alte Mann, ihm tief in die Augen blickend.
»Nein, nie! Und sie vergißt mich auch nicht. Ich würde dich auch nie vergessen, wenn ich nicht bei dir wäre, und würde immer an dich denken.«
»Wahrhaftig, du wärst's im stande?« sagte der Graf nach einer Pause.
Die Eifersucht, die ihn befiel, wenn der Knabe von seiner Mutter sprach, steigerte sich mit der Liebe zu demselben.
Bald aber kamen ernstere Sorgen, die ihn diese kleine Bitterkeit vergessen ließen, ja, die ihn vergessen ließen, daß er seines Sohnes Frau so gehaßt hatte. Kurz bevor der Neubau in Grafenhof beendigt war, wurde in Dorincourt ein großes Diner gegeben – es war lange her, daß sich etwas derartiges im Schlosse ereignet hatte. Einige Tage vorher schon trafen Sir Harry Lorridaile und Lady Lorridaile, des Grafen einzige Schwester, ein und auch dies war ein höchst befremdliches Ereignis, infolgedessen Mrs. Dibbles Ladenglocke wieder harte Arbeit bekam, denn das war ja allgemein bekannt, daß Lady Lorridaile seit ihrer Hochzeit vor fünfunddreißig Jahren das Schloß nicht mehr betreten hatte. Sie war jetzt eine alte hübsche Dame mit weißen Locken und Grübchen in den runden Wangen und einem Herzen wie Gold; sie hatte aber des Bruders Leben und Treiben so wenig gebilligt, als irgend jemand, und da sie nicht schüchterner Natur war und gerade heraus zu reden pflegte, hatte sie ihm dies keineswegs verheimlicht, und das Ergebnis solcher Offenheit war gewesen, daß sie einander aus dem Wege gingen.
Gehört hatte sie mehr von ihm, als ihr lieb war, in dieser Zeit der Trennung; man hatte ihr erzählt, wie er seine Frau vernachlässigte und wie gleichgültig er gegen seine Kinder war; auch von den zwei älteren, schwächlichen, verkommenen, unbegabten Söhnen hatte sie mehr als genug erfahren. Gesehen hatte sie keinen von beiden im Leben, aber eines schönen Tages hatte sich in Lorridaile Park ein hübscher, schlanker junger Mensch von etwa achtzehn Jahren eingefunden und hatte sich ihr als ihr Neffe Cedrik Errol vorgestellt, der, da ihn sein Weg in diese Gegend geführt habe, nicht versäumen wolle, die Tante Constantia zu besuchen, von der ihm seine längst verstorbene Mutter viel erzählt. Der guten Dame war dabei das Herz aufgegangen, und sie hatte den Neffen eine ganze Woche festgehalten und verhätschelt und über die Maßen bewundert und hatte ihn schließlich abreisen sehen in der bestimmten Hoffnung, den frohgemuten, warmherzigen, munteren Gesellen oft und viel wieder bei sich zu sehen. Das war aber nicht geschehen, denn er fand bei seiner Heimkehr den Vater in sehr ungnädiger Laune und erhielt den gemessenen Befehl, Lorridaile Park nicht wieder zu betreten. Trotzdem bewahrte ihm die Tante ein warmes Plätzchen in ihrem Herzen, und wenn sie auch selbst die amerikanische Heirat für etwas übereilt hielt, war sie doch sehr entrüstet, als sie von der Verstoßung durch den Vater und Cedriks völligem Abgeschnittensein hörte. Schließlich drang die Kunde von seinem Tode auch zu ihr, und bald darauf erfuhr sie, daß Bevis infolge eines Sturzes vom Pferde und Maurice am römischen Fieber gestorben seien, und schließlich war dann die Geschichte von dem aus Amerika herübergeholten Lord Fauntleroy aufgetaucht.
»Der wird wohl auch zu Grunde gerichtet werden,« sagte sie zu ihrem Manne, »so gut wie die andern, es müßte denn sein, daß die Mutter energisch und gescheit genug wäre, dem Alten das Gegengewicht zu halten.«
Als sie nun vollends erfuhr, daß diese Mutter gar nicht bei ihrem Kinde sein durfte, fand sie gar keine Worte mehr für ihre Entrüstung.
»Das ist doch himmelschreiend, Harry,« sagte sie. »Stell dir doch vor, ein Kind in dem Alter von der Mutter weg und zu einem Manne wie mein Bruder. Entweder wird er barbarisch roh behandelt oder verwöhnt, daß sein Lebtag nichts Ordentliches mehr aus ihm werden kann. Wenn ich denken könnte, daß ein Brief etwas nutzen würde, so –«
»Das wäre sicher nicht der Fall, Constantia,« bemerkte Sir Harry.
»Freilich nicht, dafür kennen wir Seine Herrlichkeit! Aber ganz und gar abscheulich ist's.«
Nicht nur bei den Pächtern des Grafen war viel von dem neuen Lord Fauntleroy die Rede, sondern der Ruf seiner Schönheit, Gutherzigkeit und seines zunehmenden Einflusses auf den Großvater drang bald in weitere Kreise, und nach kurzer Zeit verbreiteten sich die kleinen Geschichten und Anekdötchen von ihm in den Landsitzen der englischen Aristokratie. Bei Diners gab er nicht selten das Gesprächsthema ab; die Damen ergingen sich in mitleidigen Betrachtungen über das Schicksal der jungen Mutter und hätten gar zu gern gewußt, ob der Knabe wirklich so hübsch sei, wie behauptet wurde, und wer den Grafen und seine Vergangenheit kannte, lachte herzlich über des kleinen Burschen treuherzigen Glauben an seines Großvaters Güte und Liebenswürdigkeit. Sir Thomas Asshe war zufällig einmal in Erleboro gewesen und war Großvater und Enkel zu Pferde begegnet und hatte ersteren flüchtig begrüßt und ihn zu seinem guten Aussehen und der Ruhepause in seiner Gicht beglückwünscht. »Wie ein Truthahn hat sich der alte Sünder aufgebläht,« erzählte er nachher, »und zu verwundern ist es nicht, denn einen hübscheren Jungen als den amerikanischen Enkel habe ich wahrhaftig nie gesehen! Und auf seinem Pony saß das Kerlchen, stramm und sicher, wie ein kleiner Husar!«
So hatte natürlich auch Lady Lorridaile vielerlei von dem Knaben gehört und die Geschichten von Higgins, dem lahmen Kinde, dem Neubau von Grafenhof und viele andre riefen in ihr den lebhaften Wunsch hervor, ihn kennen zu lernen. Während sie im stillen ihre Pläne schmiedete, wie dies zu bewerkstelligen sei, traf zu ihrer unsäglichen Ueberraschung eine eigenhändige Einladung des Grafen für sie und ihren Gemahl ein.
»Unerhört! Unglaublich!« rief sie ein über's andre Mal. »Nun ist kein Zweifel mehr, daß der Junge Wunder wirkt; es heißt ja, mein Bruder vergöttere ihn und lasse ihn nicht mehr aus den Augen. Und stolz und eitel sei er auf ihn – wahrhaftig, ich glaube, er will ihn uns nur zeigen.«
Angenommen wurde die Einladung und kurze Zeit darauf trafen Sir Harry und seine Frau eines Nachmittags in Schloß Dorincourt ein. Es war schon ziemlich spät und sie zogen sich, noch ehe sie den Hausherrn begrüßt hatten, auf ihre Zimmer zurück, um Toilette zum Diner zu machen. Als sie nachher den Salon betraten, stand der Graf in seiner imponierenden Größe am Kamin und neben ihm ein kleiner Junge mit einem großen van Dyck-Kragen, welcher der neuen Tante aus einem Paar so ehrlicher brauner Augen ins Gesicht sah, daß sie kaum einen Ausruf freudiger Ueberraschung unterdrücken konnte.
Als sie ihrem Bruder die Hand schüttelte, kam ihr unwillkürlich sein Vorname auf die Lippen, mit dem sie ihn seit Kindeszeiten nicht mehr angeredet hatte.
»Wie, СКАЧАТЬ