Название: Gesammelte Werke
Автор: Джек Лондон
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962813475
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Frau Mortimer merkte plötzlich, dass ihre Brille geputzt werden musste, und eine halbe Stunde saßen sie und Billy schweigend da, während Saxon sich eifrig mit den Gedichten ihrer Mutter beschäftigte. Zuletzt stand sie da und starrte das Buch an, das sie über dem Finger geschlossen hatte, und in Verwunderung und Ehrfurcht konnte sie nur wiederholen:
»Und das habe ich nie gewusst! Das habe ich nie gewusst!«
Aber Frau Mortimers Gehirn war in dieser halben Stunde nicht untätig gewesen, und kurz darauf legte sie ihnen ihren Plan dar. Sie glaubte an wissenschaftlichen Meiereibetrieb so gut wie an wissenschaftliche Landwirtschaft, und es war ihre Absicht, gleich nach Ablauf des Pachtvertrages auf den anderen zehn Morgen eine derartige Meierei einzurichten. Wie alles, was sie anfing, sollte auch die nach allen Regeln der Kunst betrieben werden, und das hieß, dass sie mehr Hilfe brauchte. Billy und Saxon waren für diese Arbeit wie geschaffen. Noch vor dem nächsten Sommer konnte sie sie in dem kleinen Hause, das sie zu bauen gedachte, unterbringen, bis dahin musste sie irgendwie versuchen, Billy Arbeit zu verschaffen. Sie wollte ihnen gern für den ganzen Winter Arbeit garantieren, und sie wusste, dass am Ende der Straßenbahnlinie ein Häuschen zu vermieten war. Unter ihrer Aufsicht konnte Billy den Bau von Anfang an überwachen. Auf die Weise konnten sie Geld verdienen und sich auf den selbstständigen Betrieb eines Gehöfts vorbereiten, während sie sich gleichzeitig umsehen konnten.
Aber ihre Überredungskünste waren fruchtlos. Zunächst erklärte Saxon kurz und bündig, was sie dazu meinte.
»Wir können nicht an der ersten Stelle bleiben, wo wir hinkommen, wenn auch Ihr Haus und dieses Tal noch so schön und gut sind. Wir wissen ja nicht einmal, was wir selber wollen. Wir müssen weiter wandern und uns alle möglichen Orte und Methoden ansehen, um herauszufinden, wie alles zusammenhängt. Wir haben gar keine Eile. Wir wollen unserer Sache sicher sein – ja, ganz sicher! Und außerdem –«, sie bedachte sich ein wenig, »– außerdem machen wir uns nichts aus Flachland. Billy will am liebsten etwas Berge. Und ich auch.«
Als sie sich verabschiedeten, wollte Frau Mortimer ihr Exemplar von der »Geschichte der Reihen« Saxon schenken, aber Saxon schüttelte den Kopf und bat Billy um zwei Dollar.
»Hier steht, dass es zwei Dollar kostet«, sagte sie. »Wollen Sie ein Exemplar für mich kaufen und aufbewahren, bis wir eine Stelle finden, wo wir wohnen können? Dann schreibe ich Ihnen, dass Sie es mir schicken können.«
»Ach, ihr Amerikaner!« schalt Frau Mortimer und steckte das Geld ein. »Aber ihr müsst mir versprechen, mir, ehe ihr einen Entschluss fasst, hin und wieder zu schreiben.«
Sie brachte sie bis auf die Landstraße.
»Ihr seid zwei mutige junge Seelen!« sagte sie beim Abschied. »Ich wünschte nur, ich könnte mit euch in die Welt hinaus wandern, mein Gepäck auf dem Rücken. Ihr seid prachtvoll, ihr beiden! Wenn ich je etwas für euch tun kann, so lasst es mich nur wissen. Ihr werdet sicher Glück haben, und ich möchte meinen Anteil an euerm Erfolg haben. Lasst mich wissen, wie es mit dem Staatsboden geht, wenn ich auch nicht sehr daran glaube. Der liegt sicher viel zu weit vom Markt ab.« Sie drückte Billy die Hand, schloss aber Saxon in ihre Arme und küsste sie.
»Seid nur guten Mutes«, sagte sie leise und mit tiefem Ernst in der Stimme. »Ihr werdet schon durchkommen. Ihr fangt die Sache richtig an. Und ihr habt recht, dass ihr nicht auf meinen Vorschlag eingehen wollt. Aber vergesst nicht, dass dies – oder etwas Besseres – euch immer offensteht. Ihr seid noch so jung, alle beide. Übereilt euch nur nicht. Sobald ihr euch irgendwo für eine Weile niederlasst, gebt mir Bescheid, dann schicke ich euch eine Menge Bücher über Landwirtschaft und dergleichen. Auf Wiedersehen! Glückliche Reise! Glückliche Reise!«
*
An diesem Abend saß Billy eine Zeit lang unbeweglich auf dem Bettrand in dem kleinen Zimmer, das sie in San José gemietet hatten, und Saxon bemerkte einen grübelnden Ausdruck in seinen Augen.
»Ja«, sagte er schließlich und schöpfte tief Atem, »ich kann nur sagen, dass es doch wirklich noch brave Menschen auf der Welt gibt. Zum Beispiel Frau Mortimer. Sieh, die ist vom richtigen Schlage – von dem der guten alten Amerikaner!«
»Eine feine, gelehrte Dame«, sagte Saxon, »und sie schämt sich nicht im mindesten, Landwirtschaft zu betreiben. Und sie verdient sogar dabei!«
»Ja, mit zwanzig Morgen – nein, mit zehn – und hat den Boden und alle Verbesserungen bezahlt und ernährt sich selber, vier Tagelöhner und eine schwedische Frau mit Tochter, sowie ihren eigenen Neffen. Nein, das verstehe ich nicht! Mein Vater sprach nie von weniger als hundertundsechzig Morgen. Selbst dein Bruder Tom spricht nur von den großen Höfen – und dabei ist sie doch nur eine Frau. Es war gut, dass wir sie trafen.«
»Ja, es war das reine Märchen«, rief Saxon. »Sieh, das hat man vom Reisen. Man weiß nie, was geschehen kann. Und es fiel uns direkt in den Schoß, als wir schon müde werden wollten und daran dachten, wie weit es wohl noch bis San José wäre. Und sie behandelte uns nicht wie Vagabunden. Das Haus – wie rein und schön es war! Ich habe mir nie träumen lassen, dass etwas so Feines und Schönes existieren könnte wie das Innere dieses Hauses.«
»Ja, es roch so gut«, erklärte Billy.
»Das ist es eben. Das ist, was sie in den Frauenzeitschriften Atmosphäre nennen. Ich habe nie gewusst, was das bedeutete. Das Haus hat so eine feine, schöne Atmosphäre –«
»Genau wie all deine hübsche Wäsche«, sagte Billy.
»Und das ist das nächste, wenn man sich selbst rein und hübsch hält: Sein Heim nett und sauber und schön halten.«
»Aber das kann man nicht mit einem Mietshause. Man muss es selbst besitzen. Solche Häuser bauen Hauswirte überhaupt nicht. Und doch – das konnte jedes Kind sehen – das Haus war nicht teuer. Es kommt nicht darauf an, was es gekostet hat. Es ist die Art, wie es gemacht ist. Das Holz war gewöhnliches Holz, wie man es auf jedem Holzplatz kaufen kann. – Das Haus in der Pine Street war aus demselben Holz gebaut! Aber die Art und Weise, wie es gemacht ist, ist anders. Ich kann nicht erklären, was ich meine, aber du verstehst mich wohl.«
Saxon, die in Gedanken verloren dasaß und sich die kleine Villa, die sie soeben verlassen hatten, ins Gedächtnis СКАЧАТЬ