Название: Gesammelte Werke
Автор: Джек Лондон
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962813475
isbn:
Als sie später vom Weinen völlig erschöpft war und keine Tränen mehr hatte, wurde sie unpersönlicher und dachte an das Unglück, das so viele Frauen seit Ausbruch des Streiks betroffen hatte – Otto Franks Frau, Hendersons Witwe, die hübsche Kittie Brady, all die Frauen anderer Männer, die jetzt in ihrer Gefängniskleidung in San Quentin waren. Ihre Welt wollte zusammenstürzen. Niemand ging frei aus. Aber ihre Schande war größer als die aller anderen. Sie klammerte sich verzweifelt an die Einbildung, dass sie schliefe, dass alles ein böser Traum sei, dass der Wecker im nächsten Augenblick läuten, und dass sie aufstehen würde, um Billys Frühstück zu bereiten. Sie stand an diesem Tage gar nicht auf. Sie schlief auch nicht. Ihre Gedanken arbeiteten unaufhörlich mit rasender Schnelligkeit, verweilten zuerst ausführlich, anhaltend bei dem Unglück, das sie betroffen hatte, um dann den fantastischen Verzweigungen dessen, was sie für ihre Schande ansah, zu folgen und endlich zu den Tagen der Kindheit zurückzukehren. In Gedanken verrichtete sie in all den Berufen, die sie je gehabt hatte, die unzähligen mechanischen Bewegungen, die für jede einzelne Arbeit eigentümlich waren – das Formen und Zusammenkleben der Schachteln in der Kartonagenfabrik, die Webarbeit in der Jutefabrik, das Plätten in der Plätterei, die Behandlung von Obst in der Konservenfabrik. In Gedanken erlebte sie wieder alle die Bälle und Waldausflüge, an denen sie je teilgenommen hatte; sie durchlebte ihre Schultage und erinnerte sich jedes ihrer Klassenkameraden, wie sie aussahen, wie sie hießen und wo sie saßen; erlitt die grauen, trüben Jahre im Kinderheim, zog jede Erinnerung, jede Geschichte von der Mutter hervor und durchlebte wieder ihre Ehe mit Billy. Aber immer wieder – und das war das Quälende – wurden ihre Gedanken, wenn sie noch so weit flogen, zurückgeführt zu der Pein des Augenblicks, zu dem brennenden Gefühl in der Kehle, zu dem dumpfen Schmerz in der Brust und dem nagend-leeren Gefühl, dass alles vorbei war.
*
Die ganze Nacht lag Saxon schlaflos da, ohne sich zu entkleiden, und als sie morgens aufstand, wusch sie sich das Gesicht und machte sich das Haar. Ihr war seltsam zumute, sie war wie betäubt und hatte ein Gefühl, als sei ihr Kopf von einem schweren eisernen Reif zusammengepresst. Das war der Anfang einer Krankheit, die sie nicht bei Namen nennen konnte. Sie wusste nur, dass ihr seltsam zumute war. Es war kein Fieber. Es war keine Erkältung. Körperlich fehlte ihr nichts, und als sie ein wenig nachgedacht hatte, kam sie zu dem Ergebnis, dass es nur die Nerven waren – die Nerven, die nach ihrer Vorstellung und der ihrer Klasse keine Verbindung mit physischem Unwohlsein hatten.
Sie hatte das merkwürdige Gefühl, dass sie sich selbst fremd geworden war, und dass die Welt, in der sie sich bewegte, eine wie in einen Nebelschleier eingehüllte unklare Welt war, die keine scharfen Konturen hatte, und deren sonstige Klarheit verschwunden war. Ihr Gedächtnis wies große Lücken auf, und sie ertappte sich immer wieder dabei, wie sie Dinge tat, die sie gar nicht hatte tun wollen. So kam sie zu ihrem großen Erstaunen plötzlich zur Besinnung, als sie auf dem Hinterhof stand und die Wäsche der Woche zum Trocknen aufhängte. Sie erinnerte sich nicht, die Arbeit getan zu haben, und doch war es genau das, was sie tun sollte. Sie hatte Laken, Kissenbezüge und Tischwäsche gekocht; Billys Wollwäsche war in warmem Wasser gewaschen, mit selbstverfertigter Seife, deren Rezept Mercedes ihr gegeben hatte. Bei näherem Nachsehen entdeckte sie, dass sie ein Kotelette zum Frühstück gegessen hatte. Das hieß, dass sie beim Schlächter gewesen war, und doch erinnerte sie sich dessen nicht. Neugierig ging sie ins Schlafzimmer. Das Bett war gemacht und alles in Ordnung. In der Dämmerung kam sie zu sich. Sie saß im Vorderzimmer am Fenster und weinte vor überströmender Freude. Anfangs wusste sie nicht, weshalb sie sich so freute, dann aber tauchte plötzlich das Bewusstsein in ihrem Kopfe auf, dass es daher kam, weil sie ihr Kindchen verloren hatte. »Es ist ein Segen, ein Segen!« sang sie laut und rang die Hände, aber aus Freude – sie wusste, dass sie ihre Hände aus Freude rang.
Die Tage kamen und gingen. Sie hatte nur einen vagen Begriff von der Zeit. Zuweilen kam es ihr vor, als seien Jahrhunderte vergangen, seit Billy ins Gefängnis gekommen war. Dann wieder war es, als sei alles am Abend zuvor geschehen. Immer wieder aber tauchten die beiden Gedanken auf: sie durfte Billy nicht im Gefängnis besuchen, und es war ein Segen, dass sie ihr Kind verloren hatte.
Einmal kam Bud Stroters, um nach ihr zu sehen. Er saß im Vorderzimmer und sprach mit ihr, und es beschäftigte sie sehr, als sie sah, dass seine Hosen unten ausgefranst waren. Wieder eines Tages kam der Geschäftsführer der Gewerkschaft. Sie sagte ihm, wie sie Bud Stroters gesagt hatte, dass es ihr ausgezeichnet ginge, dass ihr nichts fehlte, und dass sie bis zu Billys Entlassung leicht durchkommen könnte.
Dann begann eine quälende Angst sie zu verfolgen, wo sie ging und stand. Wenn er entlassen wurde. Nein: das würde nicht geschehen. Es durften keine Kinder mehr kommen. Es konnte ja ein lebendes Kind werden. Nein, nein und tausendmal nein. Das durfte nicht geschehen. Dann eher weglaufen! Sie wollte Billy nicht wiedersehen. Alles, nur das nicht! Alles, nur das nicht!
Die Angst ließ sich nicht verscheuchen. In ihrem Schlaf, den beständig böse Träume störten, wurde es zu einer unumstößlichen Tatsache, sodass sie nur zitternd, in kalten Schweiß gebadet und mit einem lauten Schrei aufwachen konnte. Ihr Schlaf wurde immer unruhiger und immer mehr von bösen Träumen gestört. Zuweilen war sie überzeugt, dass sie gar nicht schlief, sie wusste, dass sie an Schlaflosigkeit litt, und an Schlaflosigkeit war ihre Mutter gestorben.
Eines Tages kam sie in Doktor Hentleys Sprechzimmer zu sich. Er sah sie an, als wüsste er nicht recht, was er glauben sollte.
»Bekommen Sie auch genug zu essen?« fragte er.
Sie nickte.
»Bedrückt etwas Ernsthaftes Sie?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, es ist nichts, Herr Doktor – außer –«
»Nun, was denn?« sagte er ermutigend.
Und jetzt wusste sie, warum sie gekommen war. Klar und offen erzählte sie ihm alles. Er schüttelte langsam den Kopf.
»Das geht nicht, mein Kind«, sagte er.
»Doch, es geht!« СКАЧАТЬ