Название: Gesammelte Werke
Автор: Джек Лондон
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962813475
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Jetzt aber saß sie hier, gelähmt von einer noch größeren Hilflosigkeit als der, die sie gefühlt hatte, als sie noch Gottes Platz in der großen Ungerechtigkeit anerkannte. Solange Gott existierte, gab es immer die Möglichkeit eines Wunders, eines Dazwischentretens auf übernatürliche Weise, einer Belohnung mit unbeschreiblicher Seligkeit. Wenn es aber keinen Gott gab, dann war die Welt wie eine Falle. Das Leben war eine Falle. Sie war wie ein Hänfling, den kleine Knaben gefangen und in einen Käfig gesetzt hatten. Es kam daher, weil der Hänfling dumm war. Aber sie empörte sich. Sie flatterte und schlug ihre Seele gegen die harte Wirklichkeit, wie der Hänfling seine Flügel gegen das Drahtgitter schlug. Sie war nicht dumm, und sie gehörte nicht in die Falle. Sie wollte heraus aus der Falle. Es musste einen Weg geben. Wenn Schiffsjungen und Holzhacker, die Geringsten der Dummen und Geringen, einen Weg hinauffanden, Präsidenten der ganzen Nation werden und all die klugen Leute in den Automobilen beherrschen konnten, dann musste auch sie einen Weg nach oben finden und die winzige Belohnung gewinnen können, nach der sie trachtete: Billy, ein klein wenig Liebe, ein klein wenig Glück.
Wie wollte sie für dieses Glück arbeiten! Aber wo ging der Weg? Sie sah ihn nicht. Ihre Augen sahen nur den dunklen Fleck, der San Franzisko war, den dunklen Fleck, der Oakland war, wo Männer einander die Köpfe zerschlugen und töteten, wo kleine Kinder, geborene und ungeborene, starben, und wo Frauen mit misshandelten Brüsten weinten.
Ihr vages, unwirkliches Dasein ging weiter. Ihr war, als sei es ein früheres Leben, in dem Billy sie verlassen, und als könne noch ein ganzes Leben vergehen, ehe er wiederkehrte. Sie litt immer noch an Schlaflosigkeit. Es vergingen viele Nächte, eine nach der anderen, in denen sie nicht ein einziges Mal die Augen schloss. Dann wieder schlief sie lange Schwächeperioden hindurch, erwachte betäubt und gelähmt, kaum imstande, die schlafschweren Augen zu öffnen und die müden Glieder zu bewegen. Der Druck des eisernen Reifens um ihren Kopf schwand nicht einen Augenblick. Sie war unterernährt und hatte nicht einen Pfennig. Oft bekam sie den ganzen Tag lang nichts zu essen. Einmal vergingen zweiundsiebzig Stunden, ohne dass sie das geringste zu essen hatte. Sie suchte Schaltiere im Sumpf, löste die winzigen Austern von den Felsblöcken und sammelte Muscheln.
Als aber Bud Stroters kam, um nach ihr zu sehen, versicherte sie ihm doch, dass es ihr ausgezeichnet ginge. Eines Abends nach der Arbeitszeit kam Tom und zwang sie, zwei Dollar zu nehmen. Er war schrecklich besorgt und hätte ihr gern mehr geholfen, aber Sarah erwartete in der nächsten Zeit ein Kind. Es waren schlechte Zeiten für seinen eigenen Beruf, weil in so vielen anderen Berufen gestreikt wurde. Er konnte nicht begreifen, was mit dem ganzen Land los war. Und doch war alles so einfach. Man brauchte nur die Dinge so zu sehen, wie er sie sah, und so zu stimmen, wie er stimmte. Dann gab es Gerechtigkeit für alle. Christus selbst war Sozialist, erzählte er ihr.
»Aber Christus starb vor zweitausend Jahren«, sagte Saxon.
»Ja, und wenn schon?« fragte Tom, der nicht verstand, wo sie hinauswollte.
»Denk nur«, sagte sie, »denk nur an alle die Männer und Frauen, die in den zweitausend Jahren gestorben sind, und der Sozialismus ist noch immer nicht gekommen. Und wenn noch zweitausend Jahre vergangen sind, ist er vielleicht ferner als je. Tom, dein Sozialismus hat dir nicht im geringsten genützt. Er ist ein Traum.«
Ein trauriger Ausdruck trat in das müde Gesicht ihres Bruders, er nickte und seufzte:
»Ja, ja, Saxon, aber wenn es ein Traum ist, dann ist es ein schöner Traum.«
»Aber ich will nicht träumen«, antwortete sie. »Ich will, dass alles Wirklichkeit wird. Ich will es jetzt haben.«
Für die zwei Dollar kaufte sie sich einen Sack Mehl und einen halben Sack Kartoffeln und erzielte dadurch einige Abwechslung in ihrer einförmigen Kost, die sonst ausschließlich aus Muscheln und Schaltieren bestand. Wie die italienischen und portugiesischen Frauen sammelte sie Treibholz und trug es heim, wenn sie es auch immer als eine Demütigung ihres Stolzes empfand und es so einrichtete, dass sie erst nach Eintritt der Dunkelheit heimkam. Eines Tages war ein italienisches Fischerboot vom Bagger im Kanal auf den Sand gezogen worden und lag auf der dem Sumpf zugekehrten Seite des Rock Walls. Saxon saß auf dem Deich und sah auf die Männer hinab, die sich um das Kohlenbecken versammelt hatten und hartes italienisches Brot nebst einem Gericht aus gestovtem Gemüse und Fleisch aßen, das sie mit dünnem roten Wein hinabspülten. Später zogen sie ein Grundnetz durch das schlammige Wasser über den Sand und bekamen eine Menge Fische, wobei sie sich für ihren eigenen Gebrauch die größten auswählten. Viele Tausende kleiner Fische von Sardinengröße ließen sie sterbend auf dem Sande liegen, als sie fortsegelten. Saxon bekam einen ganzen Sack voll und musste sie in zweimal heimschleppen, worauf sie sie in einem Holzzuber einsalzte.
Aber immer noch gab es Zeiten, da sie nicht bei vollem Bewusstsein war. Das merkwürdigste von allem, was sie in diesen Perioden unternahm, war, wie sie an einem stürmischen Nachmittag in einem selbstgegrabenen Loch, mit Säcken bedeckt, aufwachte. Sie hatte sich sogar eine Art primitiven Daches aus Treibholz und Schilf über dem Kopf verfertigt. Und das Schilf hatte sie mit Sand beschwert.
Ein andermal kam sie zu sich, wie sie mit einem Bündel Treibholz auf dem Rücken, das durch ein Tauende zusammengebunden war, durch den Sumpf ging. Charley Long ging neben ihr. Sie konnte sein Gesicht im Schein der Sterne sehen. Sie dachte matt darüber nach, wie lange er wohl zu ihr gesprochen und was er gesagt haben mochte. Dann wurde sie neugierig, was er sagte. Sie fürchtete sich nicht, obwohl sie seine Stärke und Bosheit kannte und wusste, wie einsam und dunkel es im Sumpf war.
»Es ist eine Schande, dass ein Mädel wie du solche Arbeit tun muss«, sagte er, offenbar als Wiederholung früherer Vorstellungen. »Nun, Saxon, was sagst du nun? Du brauchst nur ein Wort zu sagen.«
Saxon СКАЧАТЬ