Es fanden sich aber dieser dummen Teufel einige, die gegen Narhans Wahnsinn heftig zu streiten begannen. Der alte Baumeister Tomasian, der seiner Sinne auch nicht mehr ganz mächtig war, wurde dunkelrot vor Zorn. Nurhan sei ein Gotteslästerer, schrie er. Man feiere hier die Taufe seines Enkelkindes, und er wolle solche Reden nicht dulden. Als Großvater bete er zum Heiland, daß sein Enkelsohn, wenn er auch jetzt noch ein elender Wurm zum Auslöschen sei, dereinst schöne und friedliche Tage unten in Yoghonoluk oder anderswo auf dieser Welt erleben möge. Der Heiland werde dies nach seinem eigenen Willen lenken und nicht nach dem Willen eines blutrünstigen Onbaschi. Er aber glaube fest, daß die Türken sehr bald Vernunft annehmen würden. Damit war das Stichwort für den Muchtar Kebussjan gegeben. Auch er stellte sich taumelnd auf die Bank, wackelte mit der Glatze und sah äußerst vergnügt alle und keinen an:
»Verhandeln muß man«, zischte er geheimnisvoll pfiffig; »seit zwölf Jahren bin ich Muchtar von Yoghonoluk ... Ich verhandle mit den Türken, mit Kaimakam und Müdir ... Der Kaimakam hat mich stets geehrt ... Pünktlich habe ich den Bedel der Gemeinde abgeliefert ... Und ich wurde in seine Kanzlei geführt, denn der Kaimakam und der Mutessarif und der Wali und der Wesir und der Sultan, sie wissen alle, daß ich der Thomas Kebussjan bin ... Wenn ich mit ihnen verhandle, wird mir nichts geschehen, denn ich bin ein großer Steuerzahler ... Ihr aber seid kleine Steuerzahler und könnt euch mit mir nicht vergleichen ...«
Die kleineren Steuerzahler, die in ihrer Ehre gekränkten Dorfschulzen der anderen Ortschaften, rissen Kebussjan von seiner Rednerbühne herab. Tschausch Nurhan schrie, daß er unnütze Proviantvertilger nicht mehr dulden werde und daß nun jedermann demnächst unter seine Fuchtel komme, möge er auch siebzig Jahre alt sein oder mehr. Gelächter. Der besoffene Streit drohte in unangenehme Formen auszuarten. Doch glücklicherweise hatte Gabriel Bagradian den weiteren Ausschank seines Weines verboten, ehe er mit Awakian, der ihm eine heimliche Meldung überbrachte, schnell verschwunden war. Der vornehme Tisch wurde immer leerer. Ter Haigasun hatte das Gelage schon nach einer knappen Stunde verlassen. Aram Tomasian war kurz nach ihm in das Zelt zu den Frauen gegangen. Als an dem langen Tisch der Streit ausfallender zu werden versprach, hatte sich Sarkis Kilikian mit seiner Feldflasche hinübergesetzt und beobachtete aus seinen stumpfen Augen die alten Kampfhähne, ohne irgendeine Belustigung zu verraten. Noch saßen Gonzague und Juliette still nebeneinander, Lehrer Hrand Oskanian hockte nach wie vor zu Füßen der Frau. Er verschmähte es, einen der frei gewordenen Plätze einzunehmen. Plötzlich aber sprang der Schweiger auf, sich auf sein Gewehr stützend, als sei er von einer Schlange gebissen worden. Er betrachtete Julietten einige Sekunden lang entsetzt, dann drehte er sich um und ging steif davon. Oskanian hatte nur wenig getrunken und doch hielt er, schon nach wenigen Schritten, das, was er zu sehen geglaubt hatte, für ein Wahngebilde des Weines. Es war ganz und gar unmöglich und nicht denkbar, daß eine blonde und weiße Göttin ihr Knie leidenschaftlich an das Knie eines abenteuernden Subjektes drängt, von dessen Herkunft kein Mensch etwas weiß. Trotz dieser unbezweifelbaren Erkenntnis spürte aber Oskanian den Herzstich noch, als er bereits über den Altarplatz ging. Juliette aber, die plötzlich unruhig geworden war, stand auf und verabschiedete sich, um Howsannah Tomasian zu besuchen, die sie sträflicherweise die ganze Zeit vernachlässigt hatte.
Zuletzt saßen nur noch Apotheker Krikor und Gonzague Maris einander gegenüber. Gonzague betrachtete seinen ehemaligen Hauswirt mit unverhohlen erschrockener Aufmerksamkeit. Die Veränderung, die sich mit diesem seit den letzten Wochen zugetragen hatte, war kaum glaublich. Aus dem mittelgroßen sehnigen Mann schien ein magerer verwachsener Zwerg geworden zu sein, dessen Wasserkopf an einem dürren Halsstengel haltlos schwankte. Die Schultern waren hinaufgezogen und vorgedreht, die Gelenke der Finger durch große Knoten und Wülste entstellt. Nur die Mandarinenmaske hatte sich nicht ganz und gar verwandelt, wenn man von der graubraunen Verfärbung der Haut absah. Doch in das überlegen gleichmütige Spektrum seines Gesichtsausdruckes war eine neue Lichtlinie eingeschaltet, ein Lächeln jenseitiger Verschlagenheit. Krikor trank fleißig seinen Wein aus einer Teetasse. Dabei zitterte aber seine kranke Hand so stark, daß er jedesmal ein unfreiwilliges Trankopfer darbringen mußte.
»Sie sollten nicht so viel trinken, Apotheker Krikor«, mahnte Maris.
Krikor schüttelte seinen schweren Kopf, der in der letzten Zeit so merkwürdig gewachsen zu sein schien:
»Ich esse überhaupt nichts mehr ... Das Trinken aber ist geistiger Dienst, so lehrt der persische Philosoph Ferhad el Katib.«
»Sie müßten sich schonen und ins Bett legen ...«
»Ich fange erst an, mich gesund zu fühlen«, sagte der Kranke mit einer Paradoxie, die nicht nur um ihrer selbst willen erklang.
Der Streitlärm, das aufhetzende Gelächter und Gespotte am langen Tisch wurde, obgleich der Wein längst versiegt war, immer bösartiger. Es hatten sich einige Ungeladene, junge Leute zumeist, eingefunden und verschärften die Gegensätze. Die Sonne ging unter. Es war spät geworden. Die angeheiterte Taufgesellschaft warf eine wildbewegte Schattenschlacht auf den Erdboden. Unzweifelhaft lag eine Rauferei in der Luft, als der lange Trommelwirbel von der Stadtmulde herüberrollte. Ein plötzliches Stillschweigen! »Die Münadirs«, sagte jemand, und ein anderer schrie: »Alarm!« Die jungen und die alten Männer erwachten jäh aus ihrer streitsüchtigen Weltvergessenheit. In langen Sprüngen stürzte alles davon und galoppierte in die verschiedenen Einteilungen. Auch Pastor Tomasian sah man in wilder Hast gegen die Stadtmulde rennen. Binnen weniger Minuten lag der Platz des Gelages leer. »Alarm«, wiederholte Gonzague nachdenklich und in dem ruhigen Braun seiner Augen glitzerten goldene Pünktchen. Der Angriff der Türken kam seinen Plänen zuvor. Diesmal würde es wahrscheinlich nicht gut ausgehen. Sollte man nicht diese Nacht benützen? Und Juliette? Apotheker Krikor konnte sich nicht allein vom Tisch erheben. Gonzague half ihm auf. Es zeigte sich, daß dem Alten auch die kranken Beine nicht gehorchten. Er wäre zusammengestürzt, wenn ihn Maris nicht vorsichtig geführt und nach Hause gebracht hätte. Krikor schien aber seinen gebrechlichen Körperzustand als einen gleichgültigen Betriebsunfall der Natur nicht weiter zu beachten, obgleich die Heimreise unendlich viel Zeit in Anspruch nahm.
»Alarm«, fragte er leichthin, als habe er dieser Kleinigkeit nicht genug Aufmerken geschenkt und sie wieder vergessen. »Alarm«, belehrte ihn Gonzague nachdrücklich, »und einer, mit dem nicht zu spaßen sein wird!«
Der Apotheker blieb stehen. Alle fünf Schritte schon verlor er den Atem:
»Was geht mich der Alarm an«, keuchte er. »Gehöre ich denn zu ihnen? Nein, ich gehöre nicht zu ihnen, ich gehöre zu mir.«
Und er beschrieb mit der zitternden Hand einen Kreis um sich selbst, als deute er damit die Größe und Geschlossenheit seiner Ichwelt an:
»Wenn ich nicht an das Böse glaube, so gibt es kein Böses in der Welt ... Wenn ich nicht an den Tod glaube, so gibt es keinen Tod in der Welt ... Mögen sie mich ermorden, ich werde es nicht einmal merken ... Wer diesen Punkt erreicht, der baut die Welt aus dem Geiste neu!«
Er versuchte die Hände über sein Haupt zu heben. Aber es gelang ihm nicht. Gonzague, dessen Wesensart СКАЧАТЬ