Der Major schnitt diese Überlegungen jäh ab:
»Bagradian hin, Bagradian her! Solche Zivilisten sind gar nicht so wichtig. Ich habe gestern persönlich den Damlajik rekognosziert und mir die Geschichte ein bißchen angesehen. Es ist ein zerlumptes Pack. Ihre Gräben scheinen ganz primitiv zu sein. Wenn ich verschwenderisch rechne, so besitzen sie vier- bis fünfhundert Gewehre. Wir müßten uns selbst ins Gesicht spucken, wenn wir die Sache nicht bis Mittag erledigt haben.«
»Das müßten wir wirklich, Jüsbaschi«, meinte der Kaimakam, einen schnellen Blick auf den Major werfend. »Jedes Tier aber, das sein Leben verteidigt, auch das kleinste, ist furchtbar.«
Der Kolagasi von Aleppo schloß sich der Meinung des Majors nachdrücklichst an. Er hege die entschiedenste Hoffnung, binnen zwei Tagen aus dieser unbequemen Gegend fort und wieder in der schönen Stadt Aleppo zu sein. Da die Offiziere von solch einmütiger Zuversicht erfüllt waren, gähnte der Kaimakam abschließend:
»Sie garantieren also den Erfolg, Jüsbaschi?«
Der Major blies wie ein Drache zwei dicke Rauchstrahlen durch die Nase:
»Bei militärischen Unternehmungen gibt es keine Garantien. Dieses Wort muß ich ablehnen. Ich kann nur sagen, daß ich nicht weiterleben will, wenn das armenische Lager nicht bis zum Abend liquidiert ist.«
Daraufhin rekelte sich der Kaimakam mühsam auf:
»Gehen wir also schlafen!«
Der Schlaf des Hochmögenden gelang jedoch in dieser Nacht nicht zum besten. Er hatte sein Lager in Juliettens Zimmer aufgeschlagen. Der Raum war von dem Geruch der zerbrochenen Parfümflaschen noch immer so durchdringend erfüllt, daß die Nachtruhe des leberkranken Kaimakams durch beklemmende und aufreizende Traumbilder feindselig gestört und durch viele schlaflose Stunden unterbrochen wurde.
Das Erwachen war nicht besser als der Schlaf. Kaum hatte sich das erste Morgengrauen entfaltet, als der Kaimakam durch eine ungeheure Explosion geweckt wurde. Er stürzte halbangekleidet vors Haus. Die Verwüstung war groß. Die Granate war dicht vor der Hausrampe niedergegangen. Die Scherben sämtlicher Fensterscheiben bedeckten die Erde. Der Luftdruck hatte einen Türflügel aus den Angeln gehoben und in den Flur geschmettert. Im Mauerwerk klafften tiefe Breschen. Steintrümmer und aufgebogene Eisenstücke lagen überall umher. Das Schlimmste aber war der Anblick des Stabsoffiziers aus Aleppo. Den Unglücklichen hatte das Schicksal dazu ausersehen, gerade im Augenblick des Volltreffers aus dem Hause zu treten. Nun saß er gegen die Wand gelehnt. Seine blauen Augen blickten kindhaft leer. Er schien tief atmend einer träumerischen Vergangenheit nachzuhängen. Ein Sprengstück hatte ihm die rechte Schulter aufgefleischt, ein anderes den linken Oberschenkel verwundet. Der Jüsbaschi von Antakje bemühte sich um ihn. Es hatte den Anschein, als rede er ihm nicht ohne Strenge zu, sich seiner Verwundung weniger bequem hinzugeben. Der Kolagasi aber lieh diesen Mahnungen trotzig kein Gehör, sondern kippte langsam zur Seite. Der Jüsbaschi drehte sich zornig und brüllte die schreckerstarrten Soldaten an, sie möchten nicht glotzen, sondern Feldscher und Sanität holen. Dies aber war nicht so einfach. Der Feldscher befand sich bei der dritten Kompanie in Bitias. Der Major ließ den Schwerverwundeten ins Haus tragen. Er wurde in Stephans Zimmer aufs Bett gelegt. Wieder zur Besinnung gelangt, flehte er den Major an, er möge ihn nicht verlassen, ehe er verbunden sei. Der Kaimakam, der seinem Wesen nach ein überzeugter Zivilist war und den vergossenes Menschenblut praktisch ebenso entsetzte, wie es ihn theoretisch kaltließ, stieg wie von ungefähr still vor sich hin die finstre Treppe in den Hauskeller hinab. Die Kanonade Gabriel Bagradians ging nämlich gemächlich weiter. Soeben polterte ein neuer Krach von der Ortschaft herüber.
Ein mehr als ironischer Zufall hatte die Flugbahn der ersten Granate zum Bagradianhaus gelenkt und den feindlichen Bataillonsführer schachmatt gesetzt. Vielleicht aber war es gar kein Zufall, sondern ein lebendiger Lehrbeweis dafür, daß Gott durchaus nicht immer auf seiten der stärkeren Bataillone steht. Durch die Lähmung des Kommandos wurde jedenfalls der Zeitpunkt des Angriffs um mehr als eine Stunde hinausgeschoben. Die türkischen Schwarmlinien, die sich schon in den Obst- und Weingärten am Fuße des Damlajik entwickelt hatten, wurden zurückgehalten. Diese armenischen Schweine schienen das wichtigste Ziel verteufelt gut herauszuhaben und ausgelernte Feuerwerker zu besitzen. Wenn sich auch die nächsten acht Zufälle als weniger genial erwiesen als der erste, so war die Talsohle doch breit genug, um den Schrapnells und Granaten, wo immer sie auch niedergingen, schreckenerregende Gelegenheit zu bieten. Drei Häuser in Bitias, Azir und Yoghonoluk wurden in Brand geschossen. Unter einer Abteilung lagernder Saptiehs, die aus ihren Feldflaschen Kaffee tranken, richtete eine der Granaten die schwerste Verheerung an. Drei Tote und viele Verwundete zurücklassend, verließen diese Träger der zivilen Ordnungsgewalt den Kriegsschauplatz für immer, ohne einen Schuß abzugeben.
Gabriel Bagradian erreichte durch das Haubitzfeuer ungefähr das, was er angestrebt hatte, ohne freilich von seinen Erfolgen rechte Kenntnis zu haben. Die türkischen Operationen wurden schmählich gestört, der Mut der neuen Bevölkerung so empfindlich herabgestimmt, daß die Frauen in hellen Haufen bereits gegen die Orontes-Ebene zu flüchten begannen, und nicht zuletzt blieb die oberste Führung eine Zeitlang ausgeschaltet. Erst nachdem das Haubitzfeuer längst schon eingestellt war, rafften sich die Schützenketten auf und verschwanden in den Waldungen der Vorberge des Musa Dagh. Bagradian machte sich einen Augenblick lang den Selbstvorwurf, daß er nicht Verwegenheit genug besessen hatte, mindestens vierhundert Mann des ersten Treffens, die Hälfte aller Zehnerschaften, als Komitatschis auf die Anmarschwege zu verteilen und so den Angriff zu vernichten, ehe er sich zu entwickeln noch Zeit fand. Er fürchtete jedoch aus seiner eigenen gefährdeten Natur heraus alles Aufgelöste und Ungeregelte und hatte deshalb darauf verzichtet, diesen Gedanken auch nur auszusprechen. Tatsache jedenfalls war es, daß die hundert Komitatschis durch listenreiche Positionen und geistesgegenwärtige Tollkühnheit schon auf halber Bergeshöhe unter den heraufkeuchenden Feindesgruppen mehr Verwirrung und Schaden stifteten, als ein offener Sturmangriff es vermocht hätte. Zweimal, dreimal schleuderte das unsichtbare Kreuzfeuer die Verbände, die sich mühsam durch das Dickicht emporarbeiteten, wild auseinander und zerstreute sie. Die einzelnen Haufen und Rotten, von der Befehlgebung abgeschnitten, Schritt auf Schritt des Todes gewärtig, jagten die Abhänge wieder hinab, was nicht einmal Feigheit genannt werden darf, da Gegenwehr ja unmöglich war. Nach all diesen mißglückten Versuchen blieb dem Major nichts anderes übrig, als die Kompanien auf der Linie des Vorberges zu sammeln, eine Erholungsrast anzuordnen und abkochen zu lassen. Inzwischen konnten die Komitatschis in aller Ruhe die Gewehre und Patronen der Gefallenen und Verwundeten in Sicherheit bringen. Der Kaimakam, der sich beim Kommando befand, stellte mit bitterster Verdrossenheit dem Jüsbaschi die Frage:
»Wollen Sie Ihre Taktik aufrechterhalten? Ich glaube, wir kommen so nie und nimmer auf den Berg.«
Der Major wurde kaffeebraun vor Wut und schrie den Landrat an:
»Wenn Sie es wünschen, übergebe ich Ihnen hiermit den Befehl und ziehe mich zurück. Das Ganze ist mehr Ihre als meine Sache.«
Der Kaimakam merkte, daß man mit diesem eitlen Offizier äußerst vorsichtig umgehen müsse. Er beschloß deshalb, den plötzlichen Konflikt sofort abzuknicken. Mit seiner schläfrigsten Miene zuckte er die Achseln:
»Das ist richtig. Ich habe die Verantwortung. Merken Sie sich aber, Jüsbaschi, daß Sie mir verantwortlich sind. Wenn die Sache mißlingt, werden wir beide die Folgen tragen müssen, Sie genauso wie ich.«
Diese reine Wahrheit leuchtete dem Major so heftig ein, daß er verstummte. Da man die höchsten Stellen, den Wali, ja den Kriegsminister höchstpersönlich mit dem Musa Dagh beschäftigt hatte, konnte ein neuer Mißerfolg den Jüsbaschi vor ein Kriegsgericht führen, das ihm gegenüber weniger СКАЧАТЬ