Während der lang dauernden Feuerraserei gegen die armenischen Gräben ließ der Jüsbaschi nacheinander die Kompaniereserven, die Saptiehs und zuletzt die bewaffneten Bauern von seinen Offizieren heranführen, damit sich seine Obermacht beim Sturmangriff in immer wieder erneuerten Männerwellen auswirken könne. Das zweite, dritte und vierte Treffen wurde in ziemlich dichten Abständen hinter der Front bereitgestellt. Als diese durch die tückischen Überfälle der Komitatschis erschütterten und wutgepeitschten Mannschaften brüllend die Höhe erreichten, gab der Major dem ersten Treffen den Sturmbefehl. Die Armenier, die schon eine alte Sturmabwehrerfahrung hatten, schossen von ihren zumeist höher gelegenen Stellungen die zögernden Stoßschwärme in aller Ruhe zusammen. So schnell hintereinander die Wellen auch eingesetzt wurden, sie brachen sich, von der Ungunst des Bergbodens schwer benachteiligt, weit vor den armenischen Gräben. Trotz ihrer unermeßlichen Übermacht und Feuerüberlegenheit konnten die Moslems bis zum späten Nachmittag an keinem der Einfallspunkte auch nur einen Schritt weiterkommen. Dabei hatten die Armeniersöhne durch die kluge Anlage der Verteidigungsabschnitte ein verhältnismäßig leichtes und kostenloses Spiel. Ihre Gräben bildeten da und dort scharfe Winkel, und die anstürmenden Türken erhielten dadurch Front- und Flankenfeuer. Dazu kamen noch die Komitatschis, die plötzlich an dieser und jener Stelle die Reserven mit einem raschen, aber tödlichen Kugelregen überschütteten. Die todesmutigen, vergeblichen Sturmangriffe hatten den Major schon beinahe ebensoviel Männer gekostet wie die letzte Niederlage den armen Bimbaschi, der ihretwegen schmählich davongejagt worden war. Der aus einem weit härteren Holz geschnitzte Jüsbaschi aber gab nicht nach. Er stellte sich immer wieder an die Spitze der Angriffsreihen und entging hundertmal durch das Wunder der echten Führertapferkeit dem Tode. Er hielt sich zumeist im Abschnitt der Steineichenschlucht auf, denn es wurde allgemach klar, daß sich hier der schwächste Punkt der Verteidigung befand. Noch hielt Gabriel Bagradian dank seiner fliegenden Garde alle Fäden in der Hand. Drei Stunden noch, dachte er, und dann ist es Nacht. Die Garde hatte immer wieder in bedrohlichen Fällen eingegriffen, wankende Gräben versteift, die gefährdeten Lücken zwischen den Abschnitten gefüllt und ermüdete Zehnerschaften abgelöst. Jetzt freilich lag Bagradian ausgepumpt, totenfahl und ohne Atem irgendwo auf der Erde und erholte sich nur mühsam. Awakian saß neben ihm, und etwa zwölf Ordonnanzen der Jugendkohorte warteten auf seine Befehle. Haik war unter ihnen, Stephan nicht. Jeden Augenblick trafen Meldungen ein. Hauptsächlich vom Nordsattel, der bis jetzt noch keinen schweren Tag gehabt hatte. Um diese Stunde aber schienen die Türken ihre Absichten zu ändern und einen Hauptschlag im Norden vorzubereiten. Die Berichte Tschausch Nurhans lauteten immer nervöser. Nicht nur der Major, sondern ein ganzer Stab von Offizieren sei hinter den Deckungen auf den Gegenhöhen des Sattels aufgetaucht. Man habe sie deutlich an den Feldstechern erkannt. Bagradian hatte sich vorgenommen, mit dem Einsatz der Garde, das heißt der letzten Kräfte, auf das äußerste zu geizen und sich durch die Unsicherheit der einzelnen Unterführer nicht mißbrauchen zu lassen. Der Nordabschnitt war die bei weitem bestgesicherte Stellung, und es lag gar kein Grund vor, Verstärkungen in dieses Grabensystem zu werfen, ehe der Kampf noch begonnen hatte. Viel wichtiger dünkte es Gabriel Bagradian, immer in der Nähe des sehr gefährdeten Abschnittes der Steineichenschlucht zu bleiben, um dort ein Unglück zu verhüten. Er lag mit geschlossenen Augen da und schien den häufigen Meldungen vom Nordsattel keine Beachtung zu schenken. Nur noch zweieinhalb Stunden, sagte er sich innerlich vor. Eine Kampfpause war eingetreten. Das Feuer schwieg. Bagradian gab sich ganz seiner Erschöpfung hin. Vielleicht aber war dieser geistige und körperliche Schwächezustand der Grund, warum er dem Major doch in die Falle ging.
Das Echo des Kampfes erreichte die Riviera mit voller Schärfe. Das Pochen und Plättern der Schüsse klang durch eine sonderbare akustische Übertreibung so peitschend nahe, daß Juliette und Gonzague das Gefühl haben mußten, sie säßen mitten im Feuernetz, während sich die Schlacht in Wirklichkeit doch ziemlich entfernt abspielte. Juliette hielt Gonzagues Hand fest. Sein Wesen war nichts als horchende Spannung. Er saß regungslos in gespannter Haltung da:
»Ich glaube, es kommt von allen Seiten näher. Es hört sich wenigstens so an ...«
Juliette sagte nichts. Dieser polternde, pfeifende Lärm war so traumhaft fremdartig, daß sie ihn nicht zu verstehen und darum auch kaum zu fürchten schien. Gonzague beugte sich nun etwas vor, um die Brandung besser zu sehen, die an den Klippen in der Tiefe hochsprang. Das Meer war heute außerordentlich bewegt und mischte seine ferne Zornstimme in den Wirbel des Gewehrfeuers. Maris deutete südwärts die Küste entlang:
»Wir hätten uns früher entscheiden sollen, Juliette. Du könntest jetzt schon im schönsten Frieden in dem Wohnhaus der Spiritusfabrik warten ...«
Sie schauerte zusammen. Ihr Mund öffnete sich, doch sie mußte ihre Stimme erst lange suchen wie etwas Verlorenes:
»Das Schiff geht am Sechsundzwanzigsten ... Heute ist der Dreiundzwanzigste ... Ich habe noch drei Tage Zeit ...«
»Nun ja« – er beruhigte sie mit zarter Nachsicht –, »du hast noch drei Tage Zeit ... Ich nehme dir keinen Tag fort ... Wenn es die andern dort nicht tun ...«
»Ah, Gonzague, mir ist ganz merkwürdig zumute, ganz unverständlich ...«
Sie verstummte mitten im Satz. Es erschien ihr aussichtslos, ihren Zustand zu schildern, der ihr selbst völlig unbekannt war. Wie irgend etwas Weiches, sehr Verletzliches, das mit seinem frierendsten Teil aus der schützenden Hülse gezogen ist. Ihre Glieder hatten ein kaltes Eigenleben, das mit dem Gesamtbewußtsein selbst nur mehr ganz mangelhaft СКАЧАТЬ