Название: Hans Fallada – Gesammelte Werke
Автор: Hans Fallada
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962813598
isbn:
Ich habe diesen Mann oder vielmehr Bengel – er war erst Mitte der Zwanziger und weit in der Entwicklung zurückgeblieben – lange mit den immer wachsamen Augen des Hasses beobachtet. Er war der geborene Bluthund. Sein Schönstes war es, die Mitgefangenen zu quälen, immer kniff er an ihnen herum, schubste sie umher, schlug sie, verklatschte sie beim Oberpfleger. Nichts war ihm zu gering. Brachte ein Gefangener von seinem Spaziergang ein heimlich ergattertes Zwiebelchen heim – entweder Lexer jagte es ihm ab oder zeigte den Kumpel beim Oberpfleger wegen Diebstahls an. Und da die Zwiebel wirklich gestohlen war, freilich nur aus dem Anstaltsgarten, so musste der Dieb für vierzehn Tage in Arrest. Schwächere lockte Lexer in stille Ecken und schlug sie so lange, bis sie ihren Tabak, oder was ihm sonst von ihren Besitztümern begehrenswert erschien, herausgaben. Bei Stärkeren versuchte er es mit List, täuschte sie mit großen Versprechungen von Brot und hielt nie etwas.
Bei den Beamten aber war Lexer gar nicht unbeliebt. Er spielte da eine Hausnarrenrolle, sein freches, gelles Mundwerk hatte immer einen schlagfertigen Witz bereit, meist auf Kosten eines Mitgefangenen, er verrichtete jeden Dienst für die Beamten rasch, geschickt und willig und ließ sich, bei irgendeiner Gemeinheit erwischt, mit komisch jammernder Miene durchprügeln. »Man kann dem Schweinehund nicht böse sein«, sagten die Wachtmeister und duldeten ihn und seine schamlose Tyrannei über die anderen Gefangenen weiter. Vor allem war er ihnen wohl nützlich, sie erfuhren durch ihn alles, was im Bau vorging.
Lexer war schon mit sechs Jahren in ein Waisenhaus gekommen, und von da an hatte er immer nur wenige Wochen oder Monate in der Freiheit zugebracht, immer wieder war er in die festen Häuser des Staates zurückgekehrt: in die Fürsorgeerziehung, ins Jugendgefängnis, ins Gefängnis. Schließlich hatte man ihn als unverbesserlich in dieser Heil- und Pflegeanstalt untergebracht, und zwar, wie er sehr wohl wusste, auf Lebenszeit. Aber das störte ihn gar nicht. Er fühlte sich in diesem Haus, das mir eine Hölle dünkte, sauwohl. Hier kam er sich so recht in seinem Element vor. Hier konnte er jeder Gemeinheit freien Lauf lassen. Er spielte den Hilfskalfaktor, den Hilfswachtmeister, den Oberteufel. Hier schlug er einen Geistesschwachen, einen Schizophrenen, mit dem Kopf gegen die Gitterstäbe und erwartete womöglich noch ein Lob, dass er die Leute so stramm zur Arbeit anhielt.
39
Auch ein endloser Vormittag nimmt sein Ende. Es kam das Mittagessen, und die Gefangenen lächelten: Sie hatten einen guten Tag, sie bekamen ein gutes Essen. Jeder Mann bekam in einem bindfadengeknüpften Netz anderthalb Pfund Pellkartoffeln und dazu in seine Aluminiumschüssel eine Kelle einer scharf gewürzten Sauce, in der einige Fleischfasern schwammen.
Ich schälte mühsam meine Kartoffeln mit dem Löffel; Gabel und Messer waren in diesem Haus der ständigen Schlägereien zu gefährlich. Wenn ich die mit mir Essenden betrachtete, so sah ich einige, die taten wie ich; sie legten ihre Kartoffeln in die Sauce und warteten mit dem Essen, bis sie fertig mit Schälen waren. Aber wir waren bei Weitem in der Minderzahl, viele Schäler waren so ausgehungert, dass sie nicht warten konnten: Die meisten Kartoffeln verschwanden eben geschält im Munde, nur wenige erreichten die Brühe.
Schälen taten, wie ich sah, alle die Kartoffeln, aber ich sah in meiner Nähe einen dicken, untersetzten Mann mit eisengrauem Kopf und dem rotbraun gebrannten Gesicht eines Landarbeiters, der während des Schälens auch die Schalen auffraß. Kaum hatte ich fertiggeschält, warf er einen fragenden Blick auf mich, und schon fuhr seine schwielige Hand über den Tisch, kratzte auf einmal all meinen Abfall zusammen und schob ihn in den Mund.
»Mann!«, rief ich. »Da war ja eine völlig verfaulte Kartoffel zwischen!«
»Macht nichts, Kumpel«, sagte er, eifrig kauend. »Ich muss den ganzen Tag mähen, ich werd’ nie satt. Vielleicht kann ich mir heute Abend Schweinekartoffeln klauen. Hoffentlich …«
Er war nicht ein einzelner Verfressener, alle hatten Hunger, immer, auch direkt nach dem Essen. Ich sah Kranke herumgehen und die kleinsten Kartoffelkrümelchen von dem Tisch fortstehlen, andere kratzten die schon ach so blanken Schüsseln nach; einen sah ich auf dem Flur den Saucenkessel mit dem immer wieder abgeleckten Finger blank polieren. All dies geschah unter den Augen der Wachtmeister, die es als selbstverständlich ansahen.
Mir schien es unsäglich jämmerlich und gemein, Kranke so hungern zu lassen, aber auch sich zu solcher Schüsselleckerei und Abfallfresserei zu entwürdigen. Nur wenige Tage sollten vergehen, da dachte ich wesentlich anders darüber und war selbst sehr großzügig beim Schälen von Kartoffeln, das heißt, glatte Stellen ließ ich grundsätzlich ungeschält. Es ist ein sehr einfacher Satz: »Hunger tut weh«, aber seine Einfachheit nimmt nichts von seiner Wahrheit. Wer Nacht für Nacht vor Hunger nicht in den Schlaf kommen kann, wer am Tage schwindlig wird vor Hunger, der hat nur noch wenig Bedenken hinsichtlich der Nahrungsmittel, mit denen er seinen Hunger stillen kann.
Ich greife hier vor, aber ich möchte dieses Kapitel vom Essen in einer »Heil«-Anstalt endgültig zu Ende bringen, obwohl ich es für mich bis heute noch nicht zu Ende gebracht habe. In der ganzen Anstalt herrschte ein einfach schmutziger Geiz. Nie bekamen wir frisches Fleisch zu essen, nur manchmal schwammen Fasern – niemals auch nur Bröckchen! – eines roten, alten Pökelfleisches im Essen oder in der Sauce, sehr rare Fasern übrigens! Nie gab es Butter, nie Wurst, nie Käse. Nie einen Apfel. Und alles, was es gab, war dann auch noch unzulänglich, endlos mit Wasser vermischt, schlecht zubereitet.
Warum das alles so war, ahne ich noch heute nicht. Die Gefangenen behaupteten, der Oberinspektor fräße alles selbst auf. Aber auch der gefräßigste Oberinspektor kann nicht das Essen von ein paar Hundert Menschen vertilgen. Vielleicht wollte man uns nicht zu üppig werden lassen, und ich muss zugeben, selbst bei dieser Hungerkost waren die Leidenschaften noch lebhaft genug im Gange.
Es gab aber doch immer Leute unter uns, die nicht solchen Hunger litten, ja, die in gewissen Grenzen aus dem Vollen lebten, nämlich die Kalfaktoren, sie hatten die Brote für uns zu schneiden, СКАЧАТЬ