Название: Hans Fallada – Gesammelte Werke
Автор: Hans Fallada
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962813598
isbn:
38
Ich wurde vom Oberpfleger eingekleidet, ich bekam eine braune Jacke und eine gestreifte Hose aus Tuch, dazu Lederpantoffeln. Die Sachen, die ich bekam, waren neu, ich wurde vom Oberpfleger mit Auszeichnung behandelt. Aber vielleicht wäre es besser gewesen, er hätte mir alte Lumpen wie den anderen gegeben; sie sahen es ja, dass ich neues Zeug trug, das bestärkte sie in ihrer Abneigung gegen mich. »Der will was Besseres sein, der Speckjäger!«, sagten sie und warfen böse Blicke auf mich.
Übrigens tat ich etwas Seltsames bei diesem Einkleiden. Ich durfte aus meinem Koffer Seife und Zahnbürste nehmen, und dabei gelang es mir, in einem unbewachten Augenblick eine Rasierklinge zu stehlen. Ich hatte das schon einmal getan, aber damals war ich noch schlapp und feige gewesen, ich hatte noch nicht geahnt, welch Unheil mir alles noch bevorstand. Jetzt würde ich anders handeln, ohne Angst vor Schmerzen würde ich zuschneiden. Nein, noch nicht jetzt, meine Tat, diese heimliche Fortnahme einer Rasierklinge, war mir selbst überraschend gekommen. Noch nicht jetzt – erst würde ich noch kämpfen. Sollte aber mein Kampf erfolglos ausgehen … Nun gut, wenn ich meinen Termin gehabt habe und meine dauernde Überführung in diese Heilanstalt angeordnet wird, dann, ja, dann … In dieser Hölle werde ich mein Leben nicht verbringen, soviel ist gewiss.
Ich habe zum ersten Mal mein Frühstück mit meinen Leidensgefährten genommen, morgens um halb sieben, im Licht der Frühsonne sahen diese Gesichter völlig trostlos aus. Rohe Gesichter, tierische Gesichter, stumpfe Gesichter. Überentwickelte Kinne, oder sie fehlten ganz. Schielende Menschen, bucklige Menschen, verkümmerte Menschen. So fahl und düster wie ihre verschlissene Tracht. Der Oberpfleger hat mir einen Platz am letzten Tisch, ganz hinten an der Wand, angewiesen. Das ist gut, ich kann alle sehen und beobachten und sitze ganz ungestört.
Vom Kalfaktor habe ich mir einen Becher mit heißer Zichorienbrühe geholt, und der Oberpfleger hat mir drei dicke Scheiben Brot gegeben, zwei sind mit Margarine beschmiert, eine mit Marmelade. Ich esse sie langsam und mit großem Appetit, ich kaue sie gründlich, wer weiß, was es heute zum Mittagessen gibt. Das Kohlwasser hat mich sehr erschreckt. Manche bekommen mehr Brot, sie bekommen auch »Belag« drauf; der Belag besteht aus Schnittlauch oder Zwiebeln oder Quark. Das sind, wie ich erfahre, die Außenarbeiter, sie müssen den ganzen Tag schwer arbeiten, darum bekommen sie auch so wertvolle Zulage!
Kurz nach dem Frühstück ertönt der Ruf: »Antreten!«, und alle, die arbeiten, treten an, werden von einem Wachtmeister durch die Gittertür hinausgelassen, und zurück bleiben nur die Hausarbeiter, Kalfaktoren genannt, die Kranken und ich. Es gibt viele Kranke …
Ich stehe dann am Fenster und sehe zu, wie die Leute aus allen Häusern auf dem Hof antreten. Es sind viele, viele Leute, links steht auch eine Kolonne Weiber. Viele Uniformen, die diese Kranken bewachen, bei der Arbeit beaufsichtigen, antreiben, jede Flucht vereiteln werden. Und dann wird der Hof leer. Ein weißberockter, dicker Mann, der Herr Oberinspektor, teilte sie zur Arbeit ein, manche rückten mit Sensen ab, andere mit Hacken, viele gingen in die Fabrik.
Nun gehe ich mit Hielscher den Gang auf und ab, auf und ab. Hielscher ist ein kleiner Buckliger, der mit einer sanften, sehr deutlichen Stimme ein gepflegtes Deutsch spricht. Hielscher nennt mich »Herr Sommer« und »Sie«; das tut mir gut. Er erzählt mir vieles in seiner sanften, deutlichen Sprache von diesem Hause und seinen Insassen. Sonst schält er Kartoffeln, seit sechs Jahren schält er Kartoffeln, seit elf Jahren ist er in diesem Haus.
»Ich bin Sittlichkeitsverbrecher«, sagt er sanft und gewählt zu mir. »Der Medizinalrat hat mir ein Gutachten abgenommen. Ich habe angeborenen Schwachsinn bekommen und dann mangelnde Hemmungen und stark verminderte Zurechnungsfähigkeit. Und dann habe ich einen Buckel, das sieht man natürlich, und hinken tue ich auch. Ist das schlimm, Herr Sommer?«
Ich bin ganz überrascht von dieser Frage. »Schlimm?«, frage ich verwirrt. »Wieso meinen Sie schlimm?«
»Nun, ob es eine schlimme Krankheit ist, oder ist es leicht, Herr Sommer?« Und er sieht mich mit seinen lebhaften und doch traurigen Augen an.
»Nein, das ist wohl nicht so schlimm.«
»Das denke ich auch«, sagt Hielscher. »Sicher lassen sie mich bald frei. Haben Sie wohl ein bisschen Tabak für mich, Herr Sommer?«
Ich sagte dem Hielscher, dass ich selbst Sehnsucht nach Tabak hätte, ihm also leider keinen geben könne. Darauf erlosch Hielschers Interesse an mir rapide, er verließ mich, und ich wanderte den Gang allein auf und ab.
Dieser Vormittag war endlos. Ich marschierte und marschierte, aber der Zeiger der Uhr rückte nicht voran. Manchmal sah ich in einen der beiden Tagesräume, aber die dort tatenlos sitzenden, vor sich hindösenden Gestalten, diese Wracks, stießen mich ab.
Geschäftig mit Besen und Eimern waren nur die Kalfaktoren, wie in allen Gefängnissen ja, jene einigermaßen gut und sauber aussehenden Menschen, geschickt und bedenkenlos, vor den Beamten kriechend, jede Kleinigkeit von ihren Mitgefangenen hinterbringend, bestechlich und roh gegen ihre Kameraden. Ich sah sie von Zelle zu Zelle gehen, vorgeblich aufräumend, in der Hauptsache aber die Betten nach einer versteckten Scheibe Brot oder einer Pfeife Tabak durchsuchend.
Es bestärkte mir meine Antipathie, als ich sah, dass der so verhasste Lexer auch eine Art Kalfaktor war, ein Hilfskalfaktor, der wohl die längste Zeit des Tages drüben in einer der Arbeitszellen des Anbaus beim Bürstenmachen steckte, der sich aber immer wieder ein Gewerbe auf der Station zu machen wusste.
Das Treppenhaus reinigte ein Mann in mittleren Jahren mit einem einst klugen, jetzt verwirrten und hoffnungslos traurigen СКАЧАТЬ