Название: Hans Fallada – Gesammelte Werke
Автор: Hans Fallada
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962813598
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Dann ist sie wieder in ihrer Zelle, die Bindfäden liegen unordentlich am Boden, und sie geht hin und her, sie ungeduldig mit den Füßen in die Ecken stoßend, wie in ihren schlimmsten Tagen. Sie hat den Zettel gelesen, sie hat ihn verstanden. Sie weiß nun, Otto wie sie haben eine Waffe, sie können jederzeit dieses jammervolle Leben von sich werfen, wenn es gar zu unerträglich wird. Sie braucht sich nicht mehr quälen zu lassen, sie kann jetzt, in dieser Minute, da noch ein bisschen Glück von dem Besuch in ihr ist, ein Ende machen.
Sie wandert, sie redet mit sich, sie lacht, sie weint.
An der Tür lauschen sie. Sie sagen: »Jetzt fängt sie richtig an zu spinnen. Ist die Tobjacke bereit?«
Die Frau drinnen merkt nichts davon, sie kämpft ihren schwersten Kampf. Sie sieht den alten Rat Fromm wieder vor sich, sein Gesicht war so ernst, als er sagte, sie möge bis zur allerletzten Minute warten, vielleicht bekomme sie ihren Mann doch noch einmal zu sehen.
Und sie hat ihm zugestimmt. Natürlich ist es das Richtige, sie muss warten, Geduld üben, vielleicht dauert es noch Monate. Aber seien es auch nur noch Wochen, es ist so schwer, jetzt noch zu warten. Sie kennt sich doch, wieder wird sie verzweifeln, lange weinen, in Trübsinn verfallen, alle sind so hart mit ihr, nie ein gutes Wort, nie ein Lächeln. Die Zeit wird kaum zu ertragen sein. Sie braucht nur ein bisschen zu spielen, mit der Zunge und mit den Zähnen, es braucht ja noch gar nicht Ernst zu sein, nur so ein bisschen probieren, und schon ist es geschehen. Es ist ihr jetzt so leicht gemacht – es ist ihr zu leicht gemacht!
Das ist es. In irgendeiner Stunde wird sie schwach sein, sie wird es tun, und in dem Augenblick, da sie es getan hat, in dem ganz kleinen Augenblick zwischen Tat und Tod wird sie es bereuen, wie sie nie etwas im Leben bereut hat: sie hat sich der Aussicht beraubt, ihn noch einmal wiederzusehen, weil sie feige und schwach war. Man wird ihm die Nachricht von ihrem Tode bringen, und er wird erfahren, dass sie ihn verlassen hat, dass sie ihn verraten hat, dass sie feige war. Und er wird sie verachten, er, dessen Achtung ihr allein auf der Welt etwas gilt.
Nein, sie muss diese unselige Glasröhre auf der Stelle zerstören. Morgen früh kann es vielleicht zu spät sein, wer weiß, in welcher Stimmung sie morgen früh aufwacht.
Aber auf dem Wege zum Kübel hält sie inne …
Und wieder nimmt sie ihre Wanderung auf. Plötzlich hat sie sich erinnert, dass sie sterben muss und wie sie sterben muss. Sie hat es ja gehört in diesem Gefängnis bei ihren Fenstergesprächen, dass es nicht der Galgen sein wird, der sie erwartet, sondern das Fallbeil. Sie haben es ihr gerne geschildert, wie man sie auf den Tisch schnallen wird, auf dem Bauche liegend, wird sie in einen mit Sägemehl halbgefüllten Korb starren, und auf dieses Sägemehl fällt in wenigen Sekunden ihr Kopf. Man wird ihren Nacken entblößen, und über diesem Nacken wird sie die Kälte des Fallbeils spüren, noch ehe es zu stürzen beginnt. Dann wird das Sausen immer lauter werden, es wird in ihren Ohren dröhnen wie die Trompete des Jüngsten Gerichts, und dann wird ihr Körper nur ein zuckendes Etwas sein, dessen Halsstumpf dicke Strahlen Blut ausspeit, während der Kopf im Korbe vielleicht nach dem blutspeienden Halse glotzt und noch sehen kann, fühlen kann, leiden kann …
So haben sie es ihr erzählt, und so hat sie es sich viele hundert Male vorstellen müssen, und davon hat sie geträumt manches Mal, und von all diesen Schrecknissen kann ein einziger Biss auf das Glasröhrchen sie befreien! Und das soll sie von sich tun, diese Erlösung soll sie aufgeben? Sie hat die Wahl zwischen einem leichten Tod und einem schweren Tod – und sie soll den schweren Tod wählen, bloß weil sie Furcht hat, schwach zu werden, vor Otto zu sterben?
Sie schüttelt den Kopf, nein, sie wird nicht schwach werden. Sie kann das doch, warten bis zur letzten Minute. Sie will Otto wiedersehen. Sie hat die Angst ausgehalten, die sie immer ergriff, wenn Otto die Karten ablegte, sie hat den Schreck der Verhaftung ausgehalten, sie hat die Quälereien des Kommissars Laub überstanden, sie hat Trudels Tod verwunden – sie wird doch noch warten können, ein paar Wochen, ein paar Monate! Sie hat alles ertragen – auch dies wird sie ertragen! Natürlich muss sie das Gift aufbewahren bis zur letzten Minute.
Sie wandert auf und ab, auf und ab.
Aber der eben gefasste Entschluss erleichtert sie nicht. Von Neuem beginnt der Zweifel, und von Neuem schlägt sie sich mit ihm herum, und wieder beschließt sie, das Gift jetzt, sofort, auf der Stelle zu vernichten, und wieder tut sie es nicht.
Darüber ist es Abend geworden und Nacht. Man hat die ungetane Arbeit aus der Zelle geholt, und es ist ihr eröffnet worden, dass ihr wegen Faulheit für eine Woche die Matratze entzogen und dass sie für eine Woche auf Wasser und Brot gesetzt worden ist. Aber sie hat kaum hingehört. Was geht das sie an, was die reden?
Ihre Abendsuppe steht unangerührt auf dem Tisch, und noch immer läuft sie auf und ab, todmüde, keines klaren Gedankens mehr fähig, eine Beute des Zweifels: Soll ich – soll ich nicht?
Jetzt spielt ihre Zunge mit dem Giftröhrchen im Munde, ohne dass sie es recht weiß, ohne dass sie es recht will, setzt sie ihre Zähne sanft, sanft auf das Glas auf, ganz vorsichtig beißen die Zähne ein wenig …
Und hastig holt sie das Glas aus der Mundhöhle. Sie wandert und probiert, sie weiß nicht mehr, was sie tut – und draußen liegt die Tobjacke für sie bereit …
Dann plötzlich, schon tief in der Nacht, entdeckt sie, dass sie auf ihrer Holzpritsche liegt, auf den harten Brettern, mit der dünnen Decke zugedeckt. Sie zittert vor Kälte am ganzen Leibe. Hat sie geschlafen? Ist das Röhrchen noch da? Hat sie es etwa verschluckt? Sie hat es nicht mehr im Munde!
Sie fährt in irrer Angst hoch, setzt sich auf – und lächelt. Da ist es – in ihrer Hand. Sie hat es in der hohlen Hand gehalten während des Schlafs. Sie lächelt, noch einmal ist sie gerettet. Nicht den anderen, fürchterlichen Tod muss sie sterben …
Und während sie da so frierend sitzt, denkt sie daran, dass sie von heut an jeden Tag, der werden wird, diesen schrecklichen Kampf kämpfen muss zwischen Willen und Schwäche, Feigheit und Mut. Und wie ungewiss der Ausgang dieses Kampfes ist …
Und durch Zweifel und Verzweiflung hört sie eine sanfte, gütige Stimme: Nicht bange sein, Kind, bloß nicht bange sein …
Plötzlich weiß Frau Anna Quangel: Jetzt werde ich mich entschließen! Jetzt habe ich die Kraft!
Sie schleicht zur Tür, sie lauscht hinaus auf den Gang. Der Schritt der Aufseherin nähert sich. СКАЧАТЬ