Название: Hans Fallada – Gesammelte Werke
Автор: Hans Fallada
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962813598
isbn:
Und wenn die alten Leute auch schweigen, beharrlich, angstvoll, zitternd schweigen, ein Bürgermeister hat Wege, die Wahrheit zu erfahren, und bald kommt zu der Trauer die Schande für zwei alte Leute …
Wege der Gnade!
69. Anna Quangels schwerster Entschluss
Anna Quangel hatte es schwerer als ihr Mann: sie war eine Frau. Sie sehnte sich nach Aussprache, Sympathie, ein wenig Zärtlichkeit – und jetzt war sie immer allein, von morgens bis abends mit dem Entwirren und Aufrollen von Bindfäden beschäftigt, die sackweise in ihre Zelle gestellt wurden. So knapp sie ihr Mann auch mit Worten und Taten der Gemeinsamkeit gehalten hatte, dieses Wenig schien ihr jetzt wie ein Paradies, ja, die Anwesenheit nur eines stummen Otto wäre ihr schon ein Segen gewesen.
Sie weinte viel. Der harte, lange Dunkelarrest hatte ihr bisschen Kraft genommen, dieses bisschen durch das Wiedersehen mit Otto wieder aufgeflammte Kraft, das sie in der Hauptverhandlung so stark und mutig gemacht hatte. Sie hatte zu sehr hungern und frieren müssen, sie musste es ja auch jetzt in ihrer kahlen Einzelzelle. Sie konnte nicht wie ihr Mann den schmalen Küchenzettel mit rohen Erbsen aufbessern, sie hatte es nicht gelernt wie er, ihrem Tag eine sinnvolle Einteilung zu geben, einen wechselnden Rhythmus, der immer noch etwas wie Freude erwarten ließ: nach der Arbeit eine Stunde Spaziergang oder die Zufriedenheit über einen frisch gewaschenen Körper.
Auch Anna Quangel hatte es gelernt, nachts aus dem Zellenfenster zu lauschen. Aber sie stand nicht nur manchmal an ihm, sie tat es allnächtlich. Und sie flüsterte, sie sprach am Fenster, sie erzählte ihre Geschichte, sie fragte immer wieder nach Otto, nach Otto Quangel … O Gott, wusste denn wirklich hier niemand, wo Otto war, wie es ihm ging, Otto Quangel, ja doch, ein älterer Werkmeister, aber noch rüstig, sah so und so aus, dreiundfünfzig Jahre – sie mussten es doch wissen!
Sie merkte es nicht, oder sie wollte es nicht merken, dass sie den anderen lästig fiel mit ihren ewigen Fragen, ihrem hemmungslosen Erzählen. Hier hatte jede ihre eigenen Sorgen.
»Halt doch endlich mal deine Klappe, du da, Nummer 76, das wissen wir nun alles, was du quatschst!«
Oder auch: »Ach, das ist die wieder mit ihrem Otto, von hinten und von vorne Otto, was?«
Oder ganz scharf: »Wenn du nicht endlich die Klappe hältst, verpfeifen wir dich! Jetzt wollen auch mal andre drankommen!«
Kroch dann Anna Quangel endlich tief in der Nacht unter ihre Decke, schlief sie noch viel später ein, so fand sie am nächsten Morgen nicht rechtzeitig heraus. Die Aufseherin schalt mit ihr und drohte ihr einen neuen Arrest an. Spät setzte sie sich an die Arbeit, zu spät. Sie musste sich hetzen und machte allen Erfolg ihrer Hetzerei wieder zunichte, weil sie ein Geräusch auf dem Flur gehört zu haben glaubte und nun an der Tür lauschte. Eine halbe Stunde lang, eine Stunde lang. Sie, die eine ruhige, freundliche, mütterliche Frau gewesen war, veränderte sich durch die Einzelhaft so, dass alle sich an ihr ärgerten. Da die Aufseherinnen stets Mühe mit ihr hatten und unfreundlich mit ihr waren, fing sie Streit mit ihnen an; sie behauptete, ihr gebe man am wenigsten und am schlechtesten zu essen, aber die meiste Arbeit. Schon ein paarmal hatte sie sich bei diesem Wortgefecht so erhitzt, dass sie zu schreien anfing, einfach sinnlos zu schreien.
Dann hielt sie selbst erschrocken inne. Sie bedachte den Weg, den sie gegangen war, bis in diese kahle Todeszelle hinein, sie dachte an ihr Heim in der Jablonskistraße, das sie nie wiedersehen würde, sie erinnerte sich des Sohnes Otto, wie er größer wurde, seines kindlichen Geplauders, der ersten Schulsorgen, der kleinen grauen Hand, die mit ungeschickter Zärtlichkeit ihr ins Gesicht gefasst hatte – ach, diese Kinderhand, die sich in ihrem Leibe, aus ihrem Blut zu Fleisch gebildet hatte, sie war längst wieder zu Erde zerfallen, sie war ihr auf ewig verloren. Sie dachte an die Nächte, da die Trudel bei ihr im Bett gelegen hatte, wenn sie flüsternd, den blühenden jungen Leib nahe dem ihrigen, sich stundenlang unterhalten hatten, über den strengen Vater, der drüben im Bett schlief, über Ottochen und über ihre Zukunftsaussichten. Aber auch die Trudel war verloren.
Und dann dachte sie an die gemeinsame Arbeit mit Otto, an den Kampf, den sie beide über zwei Jahre in aller Stille geführt hatten. Die Sonntage kamen ihr in Erinnerung, wenn sie gemeinsam am Tisch in der Stube saßen, sie in der Sofaecke, Strümpfe stopfend, und er auf seinem Stuhl, sein Schreibzeug vor sich, gemeinsam Sätze formulierend, gemeinsam Träumen von großem Erfolg nachhängend. Verloren, vorbei, alles verloren, alles vorbei! Einsam in der Zelle, nur noch den nahen, gewissen Tod vor sich, ohne Wort von Otto, vielleicht nie wieder sein Gesicht – allein zum Sterben, allein im Grabe …
Sie geht stundenlang in der Zelle auf und ab, sie erträgt es nicht. Sie hat ihre Arbeit vergessen, die Bindfadenknäuel liegen noch immer verknotet und verwirrt auf der Erde, sie stößt sie mit dem Fuße fort, ungeduldig – und als die Wärterin die Zelle am Abend aufschließt, ist nichts getan. Es gibt harte Worte, aber sie hört gar nicht hin, mögen die doch mit ihr machen, was sie wollen, mögen die sie doch schnell hinrichten – umso besser!
»Passt auf, was ich euch sage«, sagt die Aufseherin ihren Kolleginnen. »Die fängt bald an zu spinnen, haltet immer schon eine Tobjacke bereit. Und seht oft nach ihr rein, die ist imstande und baumelt sich am hellerlichten Tage, im Handumdrehen baumelt sie sich auf, und wir haben nachher die Scherereien!«
Aber darin hat die Aufseherin unrecht: an Aufbaumeln denkt Anna Quangel nicht. Was sie am Leben erhält, was selbst dieses niedere Dasein ihr lebenswert erscheinen lässt, das ist der Gedanke an Otto. Sie kann doch nicht so von hier fortgehen, sie muss warten, vielleicht bekommt sie eine Nachricht von ihm, vielleicht wird ihr sogar erlaubt, ihn noch einmal vor ihrem Tode wiederzusehen.
Und dann, eines Tages unter diesen trüben Tagen, scheint das Glück ihr zu lächeln. Eine Wärterin öffnet plötzlich die Zellentür: »Mitkommen, Quangel! Besuch!«
Besuch? Wer soll mich hier besuchen? Ich habe doch keinen, der mich hier besuchen kann. Es wird Otto sein! Es muss Otto sein! Ich fühle es, das ist Otto!
Sie wirft einen Blick auf die Wärterin, sie möchte ihr so gerne die Frage nach dem Besucher stellen, aber es ist gerade eine Wärterin, mit der sie ständig Streit gehabt hat, sie kann diese Frau nicht fragen. Sie folgt ihr, am ganzen Leibe zitternd, sie sieht nichts, sie weiß nicht, wohin sie gehen, sie erinnert sich СКАЧАТЬ