Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke
Автор: Eduard von Keyserling
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962814601
isbn:
An der Treppe der Herzschen Wohnung fand Rosa Ida Wulf. Das Judenmädchen richtete seine schwarzen Augen forschend auf Rosa und lächelte ein altes, überlegenes Lächeln.
»Nun, Ida, was treibst du?« fragte Rosa.
»Nichts, Fräulein Rosa. Schön ist es heute.« Rosa nickte. »Fräulein Rosa«, fuhr Ida leise fort und legte zwei magere braune Hände auf Rosas Arm. »Dieser junge Herr bei Lanins, der ist schön, nicht? Ich bin auch verliebt in ihn.« Rosa schlug die Augen nieder und sagte unsicher: »Du solltest um diese Zeit schon zu Bette sein, Ida.«
Das Judenmädchen lachte. »Nein! Ich bleibe lange draußen. Aber Fräulein Rosa, ich kenne viele, viele Stellen, wo man zusammen sein kann. Sie wissen, Fräulein Rosa, so allein. Der Peter, Sie wissen, Fräulein Rosa, der garstige Schusterbub und ich, wir wissen alle solche Stellen. Soll ich sie Ihnen zeigen, Fräulein Rosa?« Dabei nahm Ida einen von Rosas Zöpfen und wog ihn in der flachen Hand. »Wozu?« erwiderte Rosa. »Was machst du denn dort mit dem Schusterbuben?« fügte sie hinzu und blickte über das Judenmädchen hinweg.
»Wo?« fragte Ida ernst.
»Nun – an – an jenen Stellen« – – –
»Oh, der Peter!« kicherte Ida, »wie der garstig ist – das kann ich Ihnen gar nicht sagen, Fräulein Rosa.« Mit diesen Worten lief Ida davon. Rosa stand noch einen Augenblick sinnend an der Treppe und hörte die schweren Schuhe des Judenmädchens die Straße hinabklappern.
Zehntes Kapitel
Am Montage fand Fräulein Schank ihre Schülerinnen nicht allzu fleißig bei der Arbeit. Die pflichttreuesten – selbst Marianne Schulz – hatten Augenblicke gänzlicher : Geistesabwesenheit. Fräulein Sally war stolz und sinnend, als laste eine große Verantwortung auf ihr. Fräulein Schank zeigte sich heute nachsichtig gegen den Mangel an Aufmerksamkeit. Sie benützte nur die Gelegenheit, um eine Rede zu halten, in der sie die These aufstellte: »Nur nach getaner Arbeit schmeckt das Vergnügen.« Diese Behauptung sollte auch das Thema für die nächste schriftliche Arbeit sein. Die nächste Arbeit? Großer Gott, wie fern lag die! Die nächste Arbeit? – Also in einer Zeit, da der Ball längst vorüber sein wird. Nach dem Ball! Das war eine Zeitrechnung, die keiner begriff. Marianne Schulz riss ihre Augen auf, als Fräulein Schank die Aufgabe für den folgenden Tag stellte. Das Wort »Die Gesellschaft«, das Fräulein Sally so großartig auszusprechen verstand, erfüllte Marianne mit andächtiger Freude. Sie, die kaum an den großen Augenblick zu denken wagte, in dem sie wirklich das weiße Musselinkleid und den grünen Gürtel würde anlegen dürfen, sie sollte an einen Tag glauben, da alles vorüber sein würde? Das konnte sie nicht, Fräulein Schank dünkte ihr eine Kassandra, die unheimliche, traurige Schicksalssprüche in die Welt hinausruft.
Nun – und dann war er da, dieser große, beseligende Abend.
Der Kronleuchter des Laninschen Saales strahlte. Der Estrich war wohlgebohnt. Die Stiegen prangten im Schmuck der Girlanden, die den Eintretenden mit dem angenehmen Festduft welkender Kränze umwehten. Fräulein Sally, in einem blauen Tarlatankleide, stand regungslos unter dem Kronleuchter und harrte ihrer Gäste. Sie legte einen Finger an die Lippen und wandte den Kopf zurück, mit der zarten Anmut jener Damen in den Modeblättern, unter denen »Rückseite der Balltoilette« zu lesen ist.
Rosa war die erste, die in den Saal trat. Ja, sie trug das weiße Einsegnungskleid; aber einige rote Haubenbänder aus dem Nachlass des Fräulein Ina gaben ihm ein neues, buntes Ansehen. Und dann – dieses kindliche Kleid, in dem Rosa fromm und andächtig vor dem Altar gestanden, es war soweit verweltlicht, dass es ihr Hals und Schultern frei ließ. Die Haare bildeten über dem Scheitel einen Strauß von Löckchen, und mitten in ihnen saß eine rote Kamelie, auf der sich eine blaue Libelle wiegte. Dass das Rot der Kamelie ein wenig vergilbt war, dass der Libelle ein Flügel fehlte – wer sah das? – außer Fräulein Sally, die mit einem Blick alle Mängel des Anzugs ihrer Freundin herausgefunden hatte. Mängel waren genug da; dennoch wollte es Fräulein Sally scheinen, als sei der Triumph des blauen Tarlatan über den weißen Musselin nicht vollständig. In Rosas Anzug lag etwas Gewolltes, Kühnes, etwas, das man an Schankschen Schülerinnen nicht gewohnt war. Statt des Inbegriffs einer Balltoilette, statt des weißen Kleides, der rosenfarbenen Schärpe und dem Rosenkranz auf dem glattgescheitelten Haar hatte dieses Kleid, das so weit von den Schultern herabfiel, hatten die roten Bänder, die nickenden Locken, hatte alles in Fräulein Sallys Augen das Überraschende und Abenteuerliche eines Maskenanzuges. Es war unschicklich, ja! – und doch…
»Ah! Rosa! Schön, dass du die erste bist«, rief Fräulein Sally und lächelte, als würden auch ihre Lippen von einem zu engen Schnürleib bedrückt. »Ich meinte, ich könnte dir helfen«, erwiderte Rosa. Sie küssten sich, langsam die Köpfe zueinander neigend – vorsichtig – um die Kleider nicht zu zerknittern. Dann gingen sie, mit kleinen Schritten, nebeneinander auf und ab, wehten sich Kühlung mit den Taschentüchern zu und unterhielten sich höflich – kurze Sätze, bei denen die Blicke zerstreut im Gemach umherirrten. Fräulein Sally erklärte die Einrichtung: »Hier das Damenzimmer. Sehr gut – nicht wahr? – – Hier das Zofenzimmer –; du weißt, jemand tritt einem auf die Schleppe – ein Band – oder sowas… eine Zofe ist immer nötig.« Das Zofenzimmer war ziemlich düster, nur eine Kerze brannte in demselben. Zwei Zofen waren bereits da. Agnes Stockmaier und Fräulein Suller, die Wirtschafterin der Lanins. Sie saßen vor ihren Kaffeetassen, steckten die greisen Köpfe zusammen und plauderten leise. »Gut?« fragte Fräulein Sally.
»Ja, o ja!« erwiderte Rosa, obgleich es ihr schien, als habe dieses Gemach, mit seiner tief brennenden Kerze, mit den beiden altbekannten Gesichtern, etwas Alltägliches an sich, das zu dem großen Abend nicht recht stimmen wollte. Sie hatte sich ein Zofenzimmer doch anders gedacht.
Die Gäste kamen. Ein Flüstern, ein Rauschen der Mäntel und Tücher – dann zogen sie ein in langen Reihen, die Damen in weißen Kleidern mit bunten Bändern. Runde Kränze lagen auf den spiegelblanken Locken; die Hände, in weißen Handschuhen, drückten sich fest an den Gürtel. Eine Schar Konfirmanden, СКАЧАТЬ