Название: Gertrud / Гертруда. Книга для чтения на немецком языке
Автор: Герман Гессе
Издательство: КАРО
Жанр: Зарубежная классика
Серия: Moderne Prosa
isbn: 978-5-9925-0881-9
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Bald darauf, während mir seine Anrede noch die Gedanken beschäftigte, sah ich ihn höflich und lustig mit einer Tochter des Hauses plaudern, die ihm entzückt zuhörte und ihn wie ein Meerwunder anschaute.
Ich lebte seit meinem Ungeschick so einsam, dass diese Begegnung mir noch tagelang nachklang und mich störte. Ich war meiner selbst nicht sicher genug, um den überlegenen Mann nicht zu fürchten, und doch zu einsam und bedürftig, um nicht von seiner Annäherung geschmeichelt zu sein. Schließlich dachte ich, er habe mich und seine Laune von jenem Abend vergessen. Da erschien er zu meiner Verwirrung in meiner Wohnung.
Das war an einem Dezemberabend, schon bei voller Dunkelheit. Der Sänger klopfte an und trat herein, als sei nichts Merkwürdiges an seinem Besuch, und sprang sogleich, ohne alle Einleitung und Höflichkeiten, mitten in das Gespräch. Ich musste ihm das Lied geben, und da er mein Mietklavier im Zimmer sah, wollte er es sogleich singen. Ich musste hinsitzen und begleiten, und so hörte ich zum erstenmal mein Lied richtig gesungen. Es war traurig und ergriff mich wider meinen Willen, denn er sang es nicht sängermäßig, sondern leise und wie für sich allein. Der Text, den ich im vorigen Jahr in einer Zeitschrift gelesen und mir abgeschrieben hatte, hieß so:
Dass bei jedem Föhn
Vom Berg die Lawine rollt
Mit Sausen und Todesgetön,
Hat das Gott gewollt?
Dass ich ohne Gruß
Durch der Menschen Land
Fremd wandern muss,
Kommt das von Gottes Hand?
Sieht er in Herzensnot
Und Qual mich schweben?
Ach, Gott ist tot!
– Und ich soll leben?
Wie ich’s ihn singen hörte, begriff ich, dass das Lied ihm gefallen hatte.
Wir waren eine kleine Weile still, dann fragte ich ihn, ob er mir nicht Fehler sagen und Korrekturen vorschlagen könne.
Muoth sah mich mit seinem dunklen, starren Blick an und schüttelte den Kopf.
»Da ist nichts zu korrigieren«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob die Komposition gut ist, ich verstehe davon gar nichts. Es ist Erlebnis und Herz in dem Lied, und weil ich selber nicht dichte und nicht komponiere, freut es mich, wenn ich einmal etwas finde, das mir wie eigen vorkommt und das ich mir selber vorsingen mag.«
»Der Text ist aber nicht von mir«, warf ich ein.
»Nicht? Nun, einerlei, der Text ist auch Nebensache. Sie müssen ihn doch erlebt haben, sonst hätten Sie das nicht komponiert.«
Ich bot ihm nun die Abschrift an, die ich schon seit Tagen bereit hatte. Er nahm die Blätter an sich, rollte sie ein und zwängte sie in die Manteltasche.
»Kommen Sie auch einmal zu mir, wenn Sie mögen«, sagte er und gab mir die Hand. »Sie leben einsam, das will ich Ihnen verderben. Aber hie und da sieht man doch gern einem anständigen Menschen ins Gesicht.«
Da er fortging, blieb sein letztes Wort und Lächeln bei mir zurück, erklang mit dem Lied zusammen, das er gesungen hatte, und mit allem, was ich bis jetzt von dem Manne wusste. Und je länger ich das alles bei mir trug und betrachtete, desto deutlicher wurde es, und am Ende verstand ich diesen Menschen. Ich verstand, warum er zu mir gekommen war, warum mein Lied ihm gefiel, warum er so fast unbescheiden in mich drang und mir halb scheu, halb frech erschienen war. Er litt, er trug einen schweren Schmerz, und er war von Einsamkeit ausgehungert wie ein Wolf. Dieser Leidende hatte es mit dem Stolz und dem Alleinsein versucht und es nicht ausgehalten, er lag auf der Lauer[29] nach Menschen, nach einem guten Blick und einem Hauch von Verständnis, und war bereit, sich wegzuwerfen dafür. So dachte ich es mir damals.
Mein Gefühl gegen Heinrich Muoth war nicht klar. Ich fühlte wohl sein Verlangen und seine Not, doch hatte ich Furcht vor ihm als einem überlegenen und grausamen Menschen, der mich verbrauchen und liegenlassen könnte. Ich war zu jung und hatte zuwenig Menschliches erlebt, um das zu verstehen und zu billigen, wie er sich gleichsam nackt hingab und kaum die Scham des Schmerzes zu kennen schien. Doch sah ich auch, dass hier ein glühender und inniger Mensch litt und verlassen war. Es fielen mir ungesucht die Gerüchte ein, die ich über Muoth gehört hatte, undeutliches ängstliches Schülergerede, dessen Farbe und Ton aber mein Gedächtnis wohl bewahrt hatte. Man erzählte von ihm tolle Frauengeschichten und Abenteuer, und ohne dass mir das einzelne erinnerlich gewesen wäre, glaubte ich doch noch irgend etwas Blutiges zu wissen, als sei er in die Geschichte eines Mordes oder Selbstmordes verwickelt gewesen.
Als ich bald darauf meine Scheu bezwang und einen Kameraden darüber fragte, zeigte sich die Sache harmloser, als sie mir erschienen war. Muoth hatte, wie es hieß, ein Liebesverhältnis mit einer jungen Dame aus der guten Gesellschafft unterhalten, und diese hatte sich allerdings vor zwei Jahren das Leben genommen, doch ohne dass man von einer Verwicklung des Sängers in diese Geschichte mehr als in vorsichtigen Andeutungen zu reden wagen durfte. Vermutlich hatte meine eigene Phantasie, durch die Begegnung mit dem eigenartigen und mir leise unheimlichen Menschen erregt, jenen Duft von Schrecken um ihn geschaffen. Doch musste er immerhin mit jener Liebe Böses erlebt haben.
Ich hatte nicht den Mut, zu ihm zu gehen. Wohl konnte ich mir nicht verbergen, dass Heinrich Muoth ein leidender und vielleicht verzweifelnder Mensch sei, der nach mir griffe und begehre, und manchmal schien mir, ich müsse dem Rufe folgen und wäre ein Schelm, wenn ich es nicht täte. Dennoch ging ich nicht hin, ein anderes Gefühl hinderte mich. Was Muoth bei mir suchte, konnte ich ihm nicht geben, ich war ein ganz anderer Mensch als er, und wenn ich auch in mancher Hinsicht einsam und nicht recht verstanden unter den Leuten stand, wenn ich auch vielleicht anders war als jedermann, durch Schicksal und durch Veranlagung von den meisten getrennt, so wollte ich doch davon kein Aufhebens machen[30]. Mochte der Sänger ein dämonischer Mensch sein, ich war keiner, und mich hielt ein inneres Bedürfnis vom Auffallenden und Besonderen ab. Ich hatte eine Abneigung und einen Widerwillen gegen Muoths heftige Gebärde, er war ein Mann der Bühne und der Abenteuer, schien mir, und vielleicht dazu bestimmt, ein tragisches und weithin sichtbares Schicksal zu leben. Ich hingegen wollte in der Stille bleiben, mir standen Gebärden und kühne Worte nicht an, ich war zur Resignation bestimmt. So rätselte ich hin und wider, im Bedürfnis nach Beruhigung. Es hatte ein Mensch an meiner Tür geklopft, der mir leid tat und den ich vielleicht gerechterweise über mich stellen musste, aber ich wollte Ruhe haben und ihn nicht einlassen. Eifrig warf ich mich auf die Arbeit und ward die plagende Vorstellung nicht los, es stehe hinter mir einer, der nach mir greife.
Da ich nicht kam, nahm Muoth die Sache wieder selber in die Hand[31]. Ich erhielt ein Brieflein von ihm, das war in großen stolzen Zügen geschrieben und lautete:
»Lieber Herr! Am elften Januar pflege ich mit einigen Freunden meinen Geburtstag zu feiern. Darf ich Sie dazu einladen? Schön wäre es, wenn wir bei diesem Anlass Ihre Violinsonate hören könnten. Was meinen Sie dazu? Haben Sie einen Kollegen, mit dem Sie sie spielen können, oder soll ich Ihnen jemand schicken? Stefan Kranzl wäre bereit. Sie würden eine Freude machen Ihrem
Das hatte ich nicht erwartet. Ich sollte meine Musik, um die noch niemand wusste, vor Kennern spielen, und ich sollte mit Kranzl zusammen geigen! Beschämt und dankbar sagte ich zu und wurde schon nach zwei Tagen von Kranzl aufgefordert, ihm die Noten zu schicken. Und wieder nach ein paar Tagen lud er mich ein. Der beliebte Geiger war noch jung, ein Mann vom Virtuosen-zuschnitt[32], sehr schmal und schlank und blass.
»So«, sagte er gleich bei meinem СКАЧАТЬ
29
auf Lauer liegen – быть настороже, подстерегать, подкарауливать
30
Aufh ebens machen – поднимать шум, много говорить (о чём-л.)
31
die Sache in die Hand nehmen – взять дело в свои руки
32
ein Mann vom Virtuosenzuschnitt –