Gertrud / Гертруда. Книга для чтения на немецком языке. Герман Гессе
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СКАЧАТЬ wegzubleiben, denn sie kam während der Kontorstunden des Vaters häufig zu meiner Mutter. Sie mochte mich, mit dem sie seit meiner Knabenjahre kaum ein Wort gewechselt hatte, nicht leiden und sah in meiner Berufswahl ein bedauerliches Zeichen von Entartung, in meinem Unglück aber eine offensichtliche Strafe und Mahnung der Vorsehung.

      Um mir eine Freude zu machen, hatte mein Vater es vorbereitet, dass ich zum Solospielen in einem Konzert des städtischen Musikvereins aufgefordert wurde. Aber ich konnte nicht, ich lehnte ab und zog mich tagelang in meine kleine Stube zurück, in der ich schon als Knabe gewohnt hatte. Besonders quälte michd asewigeGefragtwerdenu ndR edestehenmüssen[23], so dass ich gar nimmer ausging. Dabei ertappte ich mich dabei, dass ich aus dem Fenster dem Leben der Straße, den Schulkindern und vor allem den jungen Mädchen mit unglücklichem Neide nachsah.

      Wie durfte ich denn hoffen, dachte ich, je wieder einem Mädchen Liebe zeigen zu können! Ich würde immer nebendraußen stehen, wie beim Tanzen, und zusehen müssen und den Mädchen nicht für voll gelten[24], und wenn je eine freundlich mit mir wäre, so würde es Mitleid sein! Ach, das Bemitleidetwerden hatte ich schon satt bis zum Ekel.

      Unter diesen Umständen konnte meines Bleibens daheim nicht sein. Auch die Eltern litten unter meiner reizbaren Schwermut nicht wenig und redeten kaum dagegen, als ich mir die Erlaubnis erbat, gleich jetzt die längst geplante Reise anzutreten, die der Vater mir versprochen hatte. Es hat auch später noch mein Gebrechen mir zu schaffen gemacht und mir Wünsche und Hoffnungen zerstört, an denen mein Herz hing; aber so heiß und quälend habe ich meine Schwäche und Verunstaltung wohl nie mehr empfunden wie damals, wo der Anblick jedes gesunden jungen Mannes und jeder hübschen Frauengestalt mich demütigte und mir wehtat. Wie ich mich langsam an den Stock und das Hinken gewöhnt hatte, bis es mich kaum mehr störte, so musste ich mich mit den Jahren daran gewöhnen, meines Schadens ohne Bitterkeit bewusst zu bleiben und ihn mit Ergebung und Humor zu tragen.

      Zum Glück konnte ich allein reisen und bedurfte keiner besonderen Wartung mehr; jede Begleitung wäre mir zuwider gewesen und hätte meine innere Heilung gestört. Mir ward schon leichter, als ich im Zuge saß und niemand mehr mich auffällig und mitleidig betrachtete. Ich fuhr ohne Pause Tag und Nacht, in einem wahren Fluchtgefühl, und atmete tief auf, als ich am zweiten Abend durch trübe Fenster spitze, hohe Berge erblickte. Mit dem Dunkelwerden erreichte ich die letzte Station, ging müde und froh durch dunkle Gassen eines Graubündners Städtchens[25] dem ersten Gasthause zu und schlief nach einem Becher tiefroten Weines mir in zehn Stunden die Reisemüdigkeit und schon auch einen guten Teil der mitgebrachten Bedrängnis vom Halse.

      Am Morgen stieg ich in die kleine Bergbahn, die durch enge Täler an weißen, schäumenden Bächen hin bergeinwärts führte, und dann an einem kleinen einsamen Bahnhöflein in einen Wagen, und um Mittag war ich droben in einem der höchstgelegenen Dörfer des Landes.

      Im einzigen kleinen Gasthaus des stillen, armen Dorfes wohnte ich nun, zeitweise als einziger Gast, bis in den Herbst hinein. Ich hatte im Sinn gehabt, hier eine kleine Weile auszuruhen und dann weiter durch die Schweiz zu reisen, ein Stück Welt und Fremde zu sehen. Es ging aber in jener Höhe ein Wind und wehte eine Luft voller herber Klarheit und Größe, die ich nimmer verlassen mochte. Die eine Seite des Hochtales war mit Tannenwald bewachsen, fast bis zur Höhe, die andere Lehne war felsig kahl. Hier brachte ich meine Tage zu, im sonnenbraunen Gestein oder an einem der kraftvollen wilden Bäche, deren Lied bei Nacht durchs ganze Dorf tönte. In den ersten Tagen genossich die Einsamkeit wie einen kühlen Heiltrank, niemand sah mir nach, niemand zeigte mir Neugierde oder Mitleid, ich war frei und allein wie ein Vogel in der Höhe und vergaß bald meinen Schmerz und mein kränkliches Neidgefühl. Zuweilen tat es mir leid, dass ich nicht weit in die Berge gehen, unbekannte Täler und Alpen besuchen, gefährliche Wege steigen konnte. Doch war mir im Grunde herrlich wohl, nach den Erlebnissen und Erregungen der vergangenen Monate umfing mich die Stille der Einsamkeit wie eine sichere Burg, ich fand die gestörte Seelenruhe wieder und lernte, mich in meine körperliche Schwäche, wenn nicht mit Heiterkeit, so doch mit Resignation finden.

      Die Wochen dort oben sind beinahe die schönsten in meinem Leben gewesen. Ich atmete die reine, helle Luft, trank das eisige Wasser der Bäche, sah an den steilen Hängen die Ziegenherden grasen, von schwarzhaarigen, träumerisch stillen Hirten bewacht, hörte zuweilen Stürme durchs Tal gehen, sah Nebeln und Gewölk aus ungewohnter Nähe ins Gesicht. In Steinspalten beobachtete ich die kleine, zarte farbenkräftige Blumenwelt und die vielen herrlichen Moose, und an klaren Tagen stieg ich gern eine Stunde bergan, bis ich über die jenseitige Höhe hinweg die fernen, rein gezeichneten Spitzen hoher Berge mit blauen Schatten und selig leuchtenden, silbernen Schneefeldern sehen konnte. An einer Stelle des Fußpfades, wo von einer armen, kleinen Quelle her ihn ein dünnes Wassergerinnsel feucht erhielt, fand ich an jedem hellen Tag einen Schwarm von Hunderten kleiner blauer Schmetterlinge trinkend sitzen, die kaum vor meinen Schritten auswichen und mich, wenn ich sie aufstörte, mit einem winzigen, seidenzarten Flügelgesumme umtaumelten. Seit ich sie kannte, ging ich diesen Weg nur an sonnigen Tagen, und jedesmal war die dichte, blaue Schar da, und jedesmal war es ein Feiertag.

      Besinne ich mich genauer, so war allerdings jene Zeit nicht ganz so vollkommen blau und sonnig und feiertäglich, wie sie mir im Gedächtnis steht. Es gab nicht nur Nebeltage und Regentage, sogar Schnee und Kälte, es gab auch in mir Unwetter und böse Tage.

      Ich war das Alleinsein nicht gewohnt, und als das erste Ausruhen und Schwelgen vorüber war, sah mich zuweilen das Leid, dem ich entronnen, plötzlich wieder aus schrecklicher Nähe an. Manchen kalten Abend saß ich in meiner winzigen Stube, die Reisedecke auf den Knien, müde und wehrlos törichten Gedanken hingegeben. Alles was das junge Blut begehrt und hoft, Feste und tanzende Fröhlichkeit, Frauenliebe und Abenteuer, Triumph der Kraft und der Liebe, das lag drüben am anderen Ufer, für immer von mir abgetrennt und für immer unerreichbar. Sogar jene trotzig ausgelassene Zeit einer halb erzwungenen Lustigkeit, deren Ende mein Sturz im Schlitten gewesen war, erschien in meiner Erinnerung dann schön und paradiesisch gefärbt als ein verlorenes Land der Freude, deren Nachhall mir nur noch von ferne her mit verklingendem baccischem[26] Taumel herüberklang. Und wenn zuweilen nachts die Stürme gingen, wenn das kalte stetige Geräusch der stürzenden Gewässer vom leidenschafftlich wehklagenden Rauschen des zerwühlten Tannenwaldes übertönt wurde oder im Dachgebälk des gebrechlichen Hauses die tausend unerklärten Geräusche der schlaflosen Sommernacht laut wurden, dann lag ich in hoffnungslosen heißen Träumen von Leben und Liebessturm, wütend und Gott lästernd, und kam mir als ein ärmlicher Dichter und Träumer vor, dessen schönster Traum doch nur ein dünnes Seifenblasenschillern ist, während tausend andere rings in der Welt, ihrer Jugendkräft e froh, jubelnde Hände nach allen Kronen des Lebens ausstreckten.

      Wie ich jedoch die heilige Schönheit der Berge und alles, was meine Sinne täglich genossen, nur durch einen Schleier zu mir herblicken und nur aus einer seltsamen Ferne zu mir reden fühlte, so trat auch zwischen mich und jenes oft so wild aufbrechende Leid ein Schleier und eine leise Fremdheit, und bald war es so weit, dass ich beides, den Glanz der Tage und den Jammer der Nächte, wie Stimmen von außen vernahm, denen ich mit unverletztem Herzen zuhören konnte. Ich sah und fühlte mich selbst als einen Himmel mit ziehendem Gewölk, als ein Feld voll kämpfender Scharen, und ob es Lust und Genuss oder Leid und Schwermut war, es tönte beides klarer und verständlicher, löste sich aus meiner Seele und trat mich von außen an, in Harmonien und Tonreihen, die ich wie im Schlafe vernahm und die ohne mein Wollen von mir Besitz ergriffen.

      Es war in einer Abendstille bei der Heimkehr aus den Felsen, als ich das alles zum erstenmal deutlich empfand, und als ich daran grübelte und mir selber ein Rätsel war, fiel es mir unversehens ein, was das alles bedeute, und dass es die Wiederkehr jener fremden, entrückten Stunden sei, die ich in früheren Jahren ahnungsweise vorgekostet hatte. Und mit dieser Erinnerung kam jene herrliche Klarheit wieder, die fast gläserne Helligkeit und Durchsichtigkeit der Gefühle, deren jedes ohne Maske dastand und deren keines mehr Schmerz СКАЧАТЬ



<p>23</p>

das ewige Gefragtwerden und Redestehenmüssen – постоянные вопросы и необходимость отвечать

<p>24</p>

nicht für voll gelten – считаться неполноценным

<p>25</p>

ein Graubündners Städtchen – городoк в кантоне Граубюнден

<p>26</p>

baccisch – вакхический, необузданный (от имени римск.-греч. бога вина Бахуса или Вакха; лат. Ваcchus)