Die Seele des Ruhrgebiets wäre dann weg. Thomas Hölscher
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Название: Die Seele des Ruhrgebiets wäre dann weg

Автор: Thomas Hölscher

Издательство: Bookwire

Жанр: Социология

Серия:

isbn: 9783750218901

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      Dabei hatte ich selber eigentlich nie das Gefühl, dass wir zu bedauern sind. Ich habe mich unter den sog. kleinen Leuten immer sehr wohl gefühlt. Diese Menschen hatten immer ihre eigene Moral, sie waren einfach anständig, auch wenn sie von außen oft anders beurteilt wurden. Auch mein Vater war ein unglaublich moralischer Mensch. Er liebte Literatur und Musik, aber ich weiß noch genau, dass er Goethe nur deshalb nicht mochte, weil der in seinen Augen einen unmoralischen Lebenswandel geführt hatte. Wagner lehnte er ab, weil der in seinen Augen Gedankengut verbreitet hatte, das problemlos von den Nazis übernommen werden konnte.

      Diese engen Maßstäbe galten natürlich auch im privaten Leben. Kinder sind ihren Eltern gegenüber zumeist sehr kritisch, und ich kann wirklich behaupten, dass mein Vater auch nie die Unwahrheit gesagt hat. Er hat gesagt, was er dachte. Vor allem hat er nie hinterrücks über andere Leute geredet. Es ist z.B. einmal vorgekommen, dass ich als Kind irgendwelche Einkäufe für meine Mutter erledigt hatte, und versehentlich hatten die mir dort zuviel Wechselgeld zurückgegeben. Ich hatte das natürlich sofort bemerkt und kam ganz freudestrahlend nach Hause. Mein Vater hat sofort verlangt, dass ich dieses Geld zurückbringe. Aber solche Dinge gelten nicht nur für mein Elternhaus. Ich glaube, die kleinen Leute hatten insgesamt eine ganz feste Vorstellung von Moral. Und schon aus diesem Grund bin ich sogar froh darüber, in einem solchen Milieu aufgewachsen zu sein.

      Diese moralische Haltung galt übrigens auch Ausländern und Fremden gegenüber. Die gab es damals zwar noch nicht in dem Ausmaße wie heute, aber ich erinnere mich noch genau daran, dass mein Vater einmal etwas gelesen hatte über Farbige und dann meinte: Wenn es möglich wäre, würde ich am liebsten ein paar farbige Kinder adoptieren und großziehen. Das imponiert mir noch heute, vor allem wenn ich die augenblickliche Ausländerfeindlichkeit bei uns sehe. Je mehr ich über solche Dinge nachgedacht habe, um so stolzer war ich darauf, in einem solchen Milieu aufgewachsen zu sein. Denn oft ist es doch leider so: Je höher jemand hinaus will, um so korrupter wird er. Und wenn er erst ein Haus hat, dann will er unbedingt das zweite Haus haben, nach dem Zweitwagen noch den Drittwagen. Dabei geht das wirklich Wichtige im Leben verloren. Ich habe z.B. sehr bewusst den Krieg miterlebt, und der wichtigste und ergreifendste Tag in meinem Leben war der, als es endlich hieß: wir haben Frieden, dieser verdammte Krieg ist endlich vorbei. Das war einfach überwältigend. Mit der Armut haben wir leben können; aber diese Angst bei den Bombenangriffen war unerträglich gewesen, weil man nie wusste, ob man am nächsten Tag noch leben würde.

      - Wie war das Leben in der Siedlung eigentlich während der Nazi-Zeit? Ging da die Solidarität unter den Bergleuten nicht verloren?

      Das ist wirklich ein ganz interessantes Thema. Wir hatten damals als einer der ersten Haushalte in Horst-Süd ein Radio, das hatte mein Vater noch selbst zusammengebastelt. Bei zwei Ereignissen kam dann jeweils die ganze Nachbarschaft zu uns: wenn ein Fußballspiel übertragen wurde, und wenn Hitler redete. Und da waren die Reaktionen doch sehr verschieden. Mein Vater war von Anfang an gegen den Nationalsozialismus; aber dadurch hatte er schon in der engsten Verwandtschaft andauernd Streit. Ein Onkel kam z.B. plötzlich mit SA-Uniform an, und auch der Nachbar marschierte eines Tages stolz mit Stiefeln und SA-Uniform über die Straße. Der Riss ging wirklich quer durch die gesamte Bergarbeiterschaft. Die einen waren Sozialdemokraten - Kommunisten gab es eigentlich nur wenige -, die anderen waren Sympathisanten des Nationalsozialismus. Aber wie bereits gesagt, diese Trennung verlief sogar durch einzelne Familien. Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass meine Tante einmal an einer Informationsveranstaltung der Nazis teilgenommen hat, und von dem Zeitpunkt an war sie total begeistert von diesen Ideen. Wenn sie dann zu uns kam, hat sie oft von Hitler und dessen Ideen geschwärmt, und mein Vater hat ihr natürlich immer Kontra gegeben. Die schlimmsten Familienstreitereien waren dadurch eigentlich vorprogrammiert. Und doch kann man auch im nachhinein nicht so einfach trennen in gut und böse. Meine Tante z.B. besaß einen kleinen Lebensmittelladen, in dem ich auch während meines Pflichtjahres gearbeitet habe. Während des Krieges kamen nun oft polnische Zwangsarbeiter vorbei. Meist schauten die erst ängstlich in den Laden hinein, und wenn keine Kundschaft da war, dann kamen sie herein und bettelten um Brot. Und da hat meine Tante, die doch so überzeugt war von den Nazis, immer zu mir gesagt: Gib du den Leuten Brot, du bist erst 15, dir können sie noch nichts, wenn sie dich erwischen. Sie selber hat sich dann aus Angst immer verdrückt, weil sie natürlich streng bestraft worden wäre. Einerseits war sie also sehr wohl für die Ideen des Nationalsozialismus; aber andererseits ist sie doch auch immer menschlich geblieben. Ich glaube, die wirkliche Gefahr des Nationalsozialismus hat sie überhaupt nicht erkannt. Aber das kam ja leider bei allen erst viel später.

      Diese politische Spaltung hat aber - jedenfalls so weit ich das beurteilen kann - nie zu Denunziationen oder ähnlichen Gemeinheiten unter den Leuten geführt. Es war doch einfach so, dass sich die Leute in der Siedlung von Kindheit an kannten und somit sehr stark miteinander verbunden waren. Ich habe nie gehört, dass da einer den anderen etwa bei der Polizei angeschwärzt hätte. Trotz sehr unterschiedlicher politischer Meinungen hat man sich auch weiterhin akzeptiert. Das lief eher so ab: die einen haben gesagt, ihr Nazis seid alle verrückt, ihr habt doch gar keine Ahnung, und dann haben die anderen ihre Argumente vorgebracht: Guck doch mal, was der Hitler schon alles für die Arbeiter getan hat, und wenn dieser Krieg erst einmal vorbei ist, dann geht es uns allen viel besser. So ungefähr muss man sich das vorstellen. Aber dass da die Kameraden, die tagsüber zusammen gearbeitet haben, sich gegenseitig denunziert hätten, das habe ich jedenfalls nie erlebt. In anderen Kreisen ist so etwas sicherlich vorgekommen; unter den Bergleuten nicht.

      Es war allerdings auch so, dass man zunächst einmal ja auch gar nicht erfuhr, was wirklich los war. Wir Kinder ohnehin nicht. Wir hatten doch kaum etwas anzuziehen, und plötzlich bekamen wir alle eine tolle Uniform verpasst. Natürlich waren wir schon deshalb begeistert. Und von all dem, was wirklich dahintersteckte, hatten wir gar keine Ahnung. Das wurde einem erst im nachhinein klar, aber da war es bereits viel zu spät, und man konnte es selber kaum glauben. Mein Vater hat allerdings im Laufe der Zeit die ganze Sache doch immer mehr durchschaut. Und dann ist es wohl schon so gewesen, dass er vorsichtiger wurde und auch schon mal den Mund hielt; denn trotz allem war es natürlich jedem klar, was zumindest passieren konnte, wenn man sich mit seinen Bemerkungen zu weit aus dem Fenster lehnte.

      - Dieses Ruhrgebiets-Milieu, über das wir schon die ganze Zeit sprechen und das sie z.B. in dem Gedicht „Meine Stadt“ beschreiben, gibt es das eigentlich noch? Oder ist das nicht schon zum verklärten Klischee geworden?

      Dieser Text ist mittlerweile rund 17 Jahre alt, und natürlich hat sich in der Zwischenzeit einiges verändert im Ruhrgebiet. Gelsenkirchen ist z.B. viel grüner geworden, im Text wird die Stadt doch sehr grau geschildert. Wenn ich dieses Gedicht heutzutage z.B. in Schulen vorlese, dann sagen die Kinder immer: Das stimmt doch gar nicht! Unsere Stadt ist in Wirklichkeit viel schöner! Manchmal werden sie sogar richtig böse und sagen: Schreiben Sie doch auch mal ein Gedicht, in dem all das Schöne unserer Stadt vorkommt! Das habe ich natürlich auch getan, es gibt schließlich auch Texte von mir, in denen ich Gelsenkirchen oder das ganze Ruhrgebiet viel positiver dargestellt habe. Ich denke da z.B. an das Gedicht „Heimatbeschreibung“. Mit diesem Text sind übrigens auch die Kinder immer einverstanden, wenn ich in Schulen lese. Das gefällt uns schon besser, sagen die dann, da erkennt man unsere Stadt schon eher.

      - Das Gedicht „Meine Stadt“ beschreibt Gelsenkirchen auf eine Art und Weise, dass auch ich z.B. sagen kann: Ja, das ist meine Stadt. Auf der anderen Seite sehe ich aber, dass vieles von dem, was sie beschreiben, verloren geht bzw. schon verlorengegangen ist. Und diese Veränderungen sehe ich keineswegs nur positiv. In dem Text sagen Sie selber doch auch, dass eben dieses Bild der Stadt das Leben sei, dessen Pulsschlag Sie durchströmt.

      Sicherlich ist da schon eine ganze Menge verlorengegangen, und es hat sich eben nicht alles zum Positiven gewandt. Ein ganz bestimmtes Lebensgefühl ist z.B. verlorengegangen, das sich nur schwer beschreiben lässt. Die Menschen sind viel einsamer geworden, man schließt heute die Tür zu und sieht oft selbst den nächsten Nachbarn wochenlang nicht. Die Menschen sind heute beruflich viel mehr eingespannt, und zwar Männer und Frauen, sogar schon СКАЧАТЬ