Название: Die Seele des Ruhrgebiets wäre dann weg
Автор: Thomas Hölscher
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783750218901
isbn:
- Wird durch den Abbau der industriellen Produktion bei uns nicht auch die Einflussmöglichkeit der Arbeitnehmervertreter immer geringer?
Da ist leider etwas dran, das kann man auch nicht so einfach wegwischen. Wir haben doch eigentlich mit den Gewerkschaften, mit der Vernunft der Gewerkschaften, diesen Wohlstand erreicht. Dadurch dass diejenigen, die über das Kapital verfügen, immer mächtiger geworden sind und die internationale Verflechtung des Kapitals die Macht des Geldes heutzutage schon fast unendlich erscheinen lässt, ist der Druck auf die Beschäftigten und damit auf die Gewerkschaften immer stärker geworden. Bei uns ist durch die Vereinigung und das Wegbrechen des Marktes im gesamten Osten eine Situation entstanden, die das Kapital aus meiner Sicht schamlos ausnutzt. Die Daumenschrauben werden im Augenblick mit einer Brutalität angesetzt, die man vorher von Arbeitgeberseite in diesem Land nicht gekannt hat. Der Zerfall der Großindustrie geht in der Tat ganz eindeutig auf Kosten von Arbeitnehmerinteressen; denn in jedem kleinen oder mittleren Unternehmen ist die Abhängigkeit des einzelnen doch viel größer, es wird insgesamt mehr von der Hand in den Mund gelebt. Die Sicherheit, die die Großindustrie dem Arbeitnehmer trotz allem geben konnte, geht verloren. Diese Entwicklung verändert die Gesellschaft in eine Richtung, über die man sich Sorgen machen sollte. Vor allen Dingen ist unsere Zeit so schnelllebig, und noch bevor man überhaupt irgendetwas überbringen kann, ist man schon überrannt. Hier ist natürlich an die Verantwortung jedes einzelnen zu appellieren, auch wenn einige so etwas anscheinend schon nicht mehr hören können: Inwieweit kann jeder einzelne über die Parteien, über die Gewerkschaften an der Gestaltung dieses Staates mitwirken, um ihn nicht denen zu überlassen, die eigentlich mächtig genug sind, die Richtung einfach vorzugeben? Wenn diese Verantwortung nicht oder besser: nicht mehr wahrgenommen wird, sehe ich eine große Gefahr. Nicht nur vonseiten der Arbeitgeber; auch die Politik unternimmt in der letzten Zeit doch ständig den Versuch, in die Tarifautonomie einzugreifen.
- Haben Sie in Ihrer Funktion als Betriebsrat in der augenblicklichen Situation eher Engagement oder ein Gefühl der Ohnmacht bei Ihren Kollegen bemerkt?
Ohnmacht ist vielleicht nicht der richtige Begriff; aber das Gefühl der Abhängigkeit führt ab und zu in Diskussionen schon zu der Haltung: Da hilft ja doch nichts mehr, wir können nichts mehr daran ändern. Und dann ist da eben ein Faktor, der ganz wichtig ist: die Zeit. Man muss einfach Geduld haben. Etwas von einer Stunde auf die andere ändern wollen, das funktioniert nicht. Auch in ein paar Wochen sind Veränderungen nicht herbeizuführen, erst recht nicht, wenn man dies im Rahmen der legalen Möglichkeiten gestalten möchte. Es scheint mir so, dass ein Großteil derer, die in absoluter Abhängigkeit leben, diese Geduld inzwischen einfach nicht mehr haben und auch nicht mehr einsehen wollen, dass man nur mit Geduld weiterkommt. Und dann stellt sich natürlich schnell solch eine Haltung ein: Es hilft ja doch nichts, die anderen sind die Stärkeren. Das verspürt man schon, und zwar schon über einen sehr langen Zeitraum. Man stellt in Diskussionen aber auch immer wieder fest, dass es sehr wohl Engagement gibt unter den Bergleuten, dass einige Leute sehr gute Gedanken entwickeln, wie man aktiv Einfluss nehmen könnte. Das ist übrigens auch immer eine Frage der Zeit: Bei uns im Bergbau wird rund um die Uhr gearbeitet; wann bekommt man also mal alle Leute zusammen, um derartige Fragen zu diskutieren? Und dann darf man nicht außer acht lassen, dass die Gesellschaft sich in den letzten Jahren erheblich gewandelt hat. Heutzutage ist jeder so stark mit sich selber, mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, dass viele Leute kaum noch die Zeit finden, über die eigentlich wichtigen Dinge zu reden.
- Bis jetzt konnte der Abbau der Belegschaft im Bergbau immer sozial abgefedert werden. Wird das in Zukunft noch so möglich sein?
Nein. Der Bergbau ist damals ja ziemlich ungeordnet in die Krise gegangen. Um dies zu ordnen, ist für den Bereich der Ruhr vor rund 25 Jahren die Ruhrkohle gegründet worden, in die viele Altgesellschaften einen skelettierten Bergbau eingebracht haben. D. h. was in den Altgesellschaften gewinnträchtig war, ist im Regelfall nicht in die Ruhrkohle eingegangen. Und doch hat es die Ruhrkohle von 1969 bis heute geschafft, die gesamten Anpassungsmaßnahmen, Reduzierung der Förderung und der Belegschaft, für die betroffenen Menschen sozial verträglich zu gestalten. Betriebsbedingte Kündigungen hat es noch nie gegeben. Nun ist der Bergbau allerdings an seine Grenzen gekommen. Selbst wenn man heute weitere Maßnahmen wie die Anpassung, also die Frührente, ergreifen wollte, dann wäre das schon wegen des Durchschnittalters der Belegschaft gar nicht mehr möglich. Die Belegschaft ist in den vergangenen Jahren immer jünger geworden. Der letzte Tarifabschluss hat dann wegen der dramatischen Situation schon erhebliche Einkommenseinbußen für die Belegschaft gebracht, damit über mehr Freizeit alle in Beschäftigung bleiben können. Man sieht heute ganz deutlich, dass wir an Grenzen gekommen sind und dass die Sozialverträglichkeit ein Ende hat.
- Würden Sie heute noch einem jungen Menschen empfehlen, im Bergbau anzufangen?
Das kommt darauf an, für welchen Bereich sich die Leute entscheiden. Für die handwerklichen Berufe würde ich eine Ausbildung auf der Zeche immer empfehlen, einfach weil diese Ausbildung hervorragend ist. Bezogen auf den rein bergmännischen Bereich hätte ich allerdings Probleme, heute noch Empfehlungen auszusprechen. Einfach weil die Politik nicht verlässlich ist. Mein eigener Sohn ist bereits seit 14 Jahren unter Tage tätig, er fühlt sich dort wohl, kann eigenständig und kreativ arbeiten und möchte eigentlich auch im Bergbau bleiben. Ich habe ihm auch noch nie gesagt, dass es Zeit wäre, den Bergbau zu verlassen. Vor allem weil ich den Glauben an die Zuverlässigkeit der Politik noch nicht ganz verloren habe und weiß, dass wir alle vier bzw. fünf Jahre zur Wahl gehen. Es gibt unter den Politikern nämlich auch noch Leute mit Phantasie, die gestalten können und den Menschen bei ihren Überlegungen noch an vorderster Stelle sehen, Leute die vor allem wissen, dass es in jeder Beziehung besser ist, in Arbeit zu investieren als Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich sehe doch immer noch den Silberstreif am Horizont, auch wenn es manchmal über einen längeren Zeitraum ganz schön dunkel aussieht.
4. Ich würde sofort eine Umschulung machen
Anonym, 64 Jahre, Steiger i.R.
Ich war mit Leib und Seele Bergmann; aber wenn ich heute noch einmal wählen müsste, würde ich im Bergbau nicht mehr anfangen.
Ich werde in diesem Jahr 64; 1948 habe ich mit 16 Jahren im Bergbau angefangen. Allerdings nicht hier, sondern in der ehemaligen DDR. Und auch eher der Not gehorchend als dem eigenen Triebe. Wir kommen ursprünglich aus Schlesien und sind nach dem Krieg in Mitteldeutschland hängen geblieben. Ich bin damals zum Gymnasium gegangen und war mehr oder weniger Miternährer unserer Familie. Mein Vater war sehr früh während des Krieges verstorben, und ich hatte noch drei jüngere Schwestern. Schließlich ließ sich das alles nicht mehr miteinander vereinbaren; ich bin nachts losgezogen, habe Kohlen geklaut, Kartoffeln geklaut, und vormittags bin ich in der Schule eingeschlafen. Ich bin nach der Mittleren Reife von der Schule gegangen und habe im Bergbau angefangen, weil man drüben - ähnlich wie hier über den zweiten Bildungsweg - ein Praktikum von drei Jahren machen und dann in Freiberg oder Mansfeld Bergbau studieren konnte. Angefangen habe ich in Staßfurt im Salzbergwerk, Steinsalz und Kali. In den drei Jahren des Praktikums musste man damals alle Sparten des Bergbaus durchlaufen; das gab es damals drüben ja noch, Kupfer-, Schiefer-, Steinkohlenbergbau. Ende der 50er Jahre ist das dort allerdings alles kaputt gegangen. Schließlich habe ich versucht, hier im Westen im Steinkohlenbergbau ein mir noch fehlendes Praktikum zu absolvieren, von dem ich hoffte, dass es dann auch drüben anerkannt würde. Ich hatte drüben einen guten Freund, der war Bergrat in Staßfurt am dortigen Bergamt; dessen Freund wiederum war hier Werkchef auf "Bismarck". Mit dem habe ich mich dann in Verbindung gesetzt und habe auch die Zusage bekommen, falls das Durchgangslager in Bochum-Hiltrop zustimme, könne ich im Ruhrbergbau anfangen. Also habe ich meinen СКАЧАТЬ