Die Seele des Ruhrgebiets wäre dann weg. Thomas Hölscher
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Название: Die Seele des Ruhrgebiets wäre dann weg

Автор: Thomas Hölscher

Издательство: Bookwire

Жанр: Социология

Серия:

isbn: 9783750218901

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СКАЧАТЬ grüner war. Damals spielte das gemeinsame Leben überhaupt noch eine große Rolle. Ob es nun eine Geburt war, eine Beerdigung oder eines jener Schützenfeste, bei denen die Kinder morgens und die Erwachsenen abends feierten: die Menschen machten viel mehr gemeinsam als heute. Unsere Kinderschützenfeste wurden zum Beispiel immer schon Wochen vorher vorbereitet: Kostüme wurden geschneidert, Pfeil und Bogen besorgt, König, Königin und Prinzessin wurden bestimmt.

      - Sie sprachen gerade davon, dass die Bergarbeitersiedlung eine Welt für sich war. Wie war damals eigentlich das Ansehen der Bergleute?

      Es war in der Tat so, dass die gesamte Arbeiterschaft und somit auch die Bergleute im Horster Süden wohnte, während zum Beispiel Kaufleute oder Akademiker fast alle im Horster Norden wohnten. Auf solche Unterschiede wurde damals also ganz offensichtlich schon Wert gelegt. Es war doch zum Beispiel auch so, dass schon die Steiger eine eigene Straße für sich hatten, eine Straße mit schönen Häuser, die man schon fast als Villen bezeichnen kann. Die Bergleute gehörten eigentlich zu den kleinsten Leuten in der gesamten Hierarchie. Die Menschen in unserer Siedlung kamen zudem fast durchweg aus dem Osten, waren also entweder selber Zugezogene, oder sie lebten hier in der zweiten Generation, und man erkannte sie zumeist schon an ihrer Sprache; denn in aller Regel sprachen sie ein sehr schlechtes Deutsch. Dieses typische Ruhrgebietskauderwelsch eben. Und auch wenn ich heute in alten Bergmannsliedern oder -gedichten lese, dass die Bergleute doch immer einen besonderen Stolz auf ihren Berufsstand empfunden hätten, dann kann ich das aus meiner eigenen Erfahrung jedenfalls nicht nachvollziehen.

      Ich erinnere mich vor allem an den Kampf um das tägliche Brot. Und daran, dass die Arbeit unter Tage wohl sehr hart war. Mein Vater war nicht der große, starke Arbeiter, den man vielleicht vor Augen hat, wenn man an den typischen Bergarbeiter denkt. Mein Vater war eher schmächtig und sehr interessiert an Literatur und Musik, ein Mensch also, der nicht gerade dem üblichen Klischee des Arbeiters entspricht. Besonders schlimm war der Wechsel der Schichten; denn dadurch war natürlich die gesamte Familie in Mitleidenschaft gezogen. Wenn mein Vater von der Schicht nach Hause kam, dann musste er sich zunächst einmal zwei oder drei Stunden hinlegen und schlafen, und während dieser Zeit durften wir natürlich nicht stören. Das Leben von uns Kindern spielte sich somit fast ausschließlich draußen ab, weil es im Haus keinen Platz zum Spielen gab. Und unter dieser Enge, diesem äußerst reduzierten Innenleben, haben wir irgendwie doch gelitten.

      Aber ich will das nicht dramatisieren; denn draußen war es natürlich auch schön, da hatten wir viele Möglichkeiten. Es gab ja - wie gesagt- noch keine Autos. In Horst-Süd hatte damals lediglich der Arzt ein Auto, und ansonsten wüßte ich gar nicht, wer dort noch mit einem Auto durch die Gegend gefahren wäre. Also gehörte die Straße uns. Und diese Straße wurde damals gerade asphaltiert, so dass wir die herrlichste Rollschuhlaufbahn hatten. Wir sind auch in den vielen Baustellen herumgeturnt und wurden dann abends oder am nächsten Tag ausgeschimpft, wenn die Bauarbeiter uns dabei erwischt hatten. Ich möchte überhaupt sagen, dass wir trotz allem eine sehr schöne und reiche Kindheit hatten. Besonders gut erinnere ich mich noch an die Zeit vor dem Weihnachtsfest. Da hat an den langen Abenden die ganze Familie zusammen gesessen, es wurde gesungen, und es wurden Geschichten erzählt. Vor allem Gespenstergeschichten, und dann war ich immer froh, dass meine Eltern bei mir waren. Was damals für uns Kinder immer eine ganz große Rolle gespielt hat, war das Gefühl der Geborgenheit.

      Wir konnten uns wirklich noch geborgen fühlen. In aller Regel waren die Frauen damals noch nicht berufstätig, sondern mussten die Familie und vor allem ihre Männer versorgen; denn wenn die von der Zeche nach Hause kamen, waren sie total fertig. In dem einen Raum, in dem sich unser gesamtes Familienleben abspielte, stand ein Sofa, und das wurde vom Vater beschlagnahmt, wenn er von der Schicht kam. Da hat er dann jeden Tag erst einmal zwei oder drei Stunden geschlafen, und wir Kinder mussten dann entweder ganz leise sein oder eben nach draußen gehen.

      - Wenn man von den Bergleuten spricht, dann sieht man immer nur die Arbeit der Männer. Der Bergbau ist eben ein typischer Männerberuf. Wie sah eigentlich der Arbeitstag einer Frau aus?

      Der war sicherlich auch sehr schwer. Die Frauen der Bergleute hatten eben nicht nur das zu versorgen, was man heute den Haushalt nennt. Die Bergleute brachten damals zum Beispiel noch ihre Arbeitskleidung zum Waschen nach Hause, und das war dann jedes Mal eine elende Plackerei, weil es Waschmaschinen noch nicht gab. Außerdem mussten die Frauen immer die Gartenarbeit verrichten und die Tiere versorgen. Auch die Ehefrauen der Bergleute hatten wirklich von morgens bis abends zu tun.

      - Sie sprachen gerade davon, dass es damals noch viel mehr gemeinsames Handeln oder Solidarität unter den Leuten gab. Spielt da nicht doch auch eine gewisse Verklärung der Vergangenheit mit, in der natürlich alles immer besser war, als es heute ist?

      Nein, das glaube ich nicht. Ich will das einmal so ausdrücken: Wenn ich an meine Kindheit in der Siedlung zurückdenke, dann kommt es mir immer noch so vor, als wenn ich dort unter lauter Verwandten gewohnt hätte. Genau so war das: jeder Mensch auf der Straße kam mir damals wie ein Verwandter vor. Das kann man heute eigentlich gar nicht mehr nachvollziehen, wie man zu fremden Menschen eine so starke Beziehung haben kann. Aber das hatte eben ganz stark mit dem Berufsleben der Bergleute zu tun; man war unter Tage aufeinander angewiesen, und das hatte Konsequenzen auch für den privaten Bereich. Hinzu kam die isolierte Situation; denn zu anderen Berufsgruppen hatten die Leute im allgemeinen gar keinen Zugang.

      Man sah diese Trennung übrigens auch in der Schule. Die Grundschule besuchten alle Kinder damals wie heute noch unabhängig vom Beruf des Vaters. Ich kann mich noch erinnern, dass wir immer sehr große Klassen hatten, zwischen 40 und 50 Kinder. Nach dem vierten Schuljahr waren dann aus meiner Klasse aber nur drei Jungen für das Gymnasium bestimmt: der Sohn des Pastors, der Sohn des Doktors, und der dritte war der Sohn eines Bergmanns. Der war allerdings auch schlauer als alle anderen zusammen, so dass man wohl gar nicht umhin konnte, ihn auch zum Gymnasium zu schicken und später studieren zu lassen. Aber dieser Junge war wirklich eine Ausnahme. Die meisten der Kinder von Bergleuten sind damals übrigens in irgendein Handwerk gegangen. Ich weiß eigentlich niemanden, der auch wieder Bergmann geworden ist. Denn das haben die Bergleute - und auch mein Vater - immer gesagt: Meine Kinder sollen einmal etwas Besseres werden. Auf keinen Fall sollen sie auch Bergleute werden, es ist viel zu schwer und zu gefährlich, da unten zu arbeiten.

      Damals konnte ich mir das allerdings noch gar nicht so recht vorstellen; aber vor ein paar Jahren bin ich mit der Gruppe der Gelsenkirchener Autoren einmal auf der Zeche „Consol“ eingefahren, und da war ich allein schon durch die Grubenbesichtigung völlig erschöpft. Für mich war das eine ganz wichtige Erfahrung; denn bei dieser Grubenfahrt habe ich mich meinem verstorbenen Vater sehr nahe gefühlt. Ich habe plötzlich verstanden, was er zeit seines Lebens für uns geleistet hat.

      Das Schlimmste für mich war die Dunkelheit in der Grube. Ich habe vorher gar nicht gewusst, dass es eine solche Dunkelheit überhaupt gibt. Als wir wieder nach oben kamen, habe ich den jungen Bergleuten gesagt: Wenn mein Mann Bergmann wäre, dann würde ich den nur noch verwöhnen. Doch, das war so; mir taten diese Leute plötzlich leid.

      - Im Augenblick sieht es um den deutschen Bergbau nicht sehr gut aus. Glauben Sie noch an eine Zukunft des Bergbaus, oder ist das alles nicht schon Geschichte?

      Es ist schon sehr traurig, dass in einer Stadt wie Gelsenkirchen, die immer vom Bergbau gelebt hat, davon kaum noch etwas existiert. Und ob dieser Rest noch eine Zukunft hat, das kann ich nicht sagen. Es ist aber eine Tatsache, dass man in der Vergangenheit in Gelsenkirchen nie sonderlich stolz darauf war, eine Bergarbeiterstadt zu sein. Unsere Stadtväter haben sich doch zeitweilig geradezu geniert, von der „Stadt der tausend Feuer“ zu reden. Das finde ich schlimm; man hat zur eigenen Identität oft gar nicht stehen wollen und immer ein anderes Image gesucht. Dabei hat mir dieser Name immer gefallen: „Stadt der tausend Feuer“: wo Feuer ist, da ist schließlich auch Wärme, da sind Menschen, da ist Arbeit. Aber anscheinend wollte man in Gelsenkirchen immer etwas Besseres sein. Genau wie unsere Väter immer gesagt haben: unsere Kinder sollen einmal etwas Besseres СКАЧАТЬ