Название: Die Seele des Ruhrgebiets wäre dann weg
Автор: Thomas Hölscher
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783750218901
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Konkret hat eine Stadt wie Gelsenkirchen seit dem Ende der 60er Jahre rund ein Drittel der Bevölkerung verloren, ist die Arbeitslosigkeit in großen Teilen des Ruhrgebiets heute höher als in den neuen Bundesländern. Vor allem gut ausgebildete Menschen haben die Region verlassen, das Angebot an billigem und billigstem Wohnraum in z.T. schrottreifen Immobilien zieht Menschen an, die eher die Zahl der sog. bildungsfernen Haushalte ansteigen lässt. (Ich weiß nicht, ob das politisch korrekt ist, finde es aber auch egal.) Zum Ende des Jahres 2019 stellt der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband fest, dass das Ruhrgebiet mittlerweile die am stärksten von Armut betroffene und auch in Zukunft bedrohte Region in ganz Deutschland ist. Der Strukturwandel ist in großen Teilen des Ruhrgebiets eben wirklich kein 100m-Lauf, sondern mindestens ein Marathon. Und vielleicht wäre es gut, sich endlich einmal ganz grundlegend zu fragen, was Strukturwandel überhaupt bedeuten soll. Sollen da bestehende Strukturen soz. in therapeutischer Absicht geändert werden, bis wieder der Zustand irgendeiner „heilen Welt“ erreicht ist und das ganze System wieder besser funktioniert? Oder sollte man Strukturen nicht auch mal gänzlich in Frage stellen dürfen, die mit einem ganzheitlichen Verständnis von Gesellschaft ganz offensichtlich schon lange nichts mehr am Hut haben. „Ein ethischer Standpunkt wird dieses System ändern, das ist zweifelsohne so“, meinte der katholische Geistliche. „Aber natürlich leben wir im Augenblick in einer Luft, die ein solches Denken absolut nicht befördert. Ganz im Gegenteil: wir leben in einer immer egoistischer werdenden Gesellschaft, die auch noch offiziell gefördert wird, wenn ich nur an das Gerede über Leistungsprinzip und Leistungsgesellschaft gerade von konservativer Seite denke.“
Wer Visionen hat, soll zum Psychiater gehen?
Liegt es wirklich nur am Geld? (Den Städten des Ruhrgebiets fehlt natürlich das Geld für einen tiefgreifenden Strukturwandel. Ansonsten fehlt das Geld aber nicht. Nur scheint sich jeder mit der Tatsache abgefunden zu haben, dass dieses Geld immer ungerechter verteilt ist, als sei das eine Art Naturgesetz.) Es fehlen vor allem Sozialstrukturen so wie die, die über Jahrzehnte Menschen aus vielen Ländern zu einer Gemeinschaft zusammengeschweißt haben, in der man sich trotz – oder auch gerade wegen - aller Unzulänglichkeiten solidarisch miteinander und wohl gefühlt hat. In einigen Stadtteilen fühlen Menschen sich mittlerweile abgehängt, allein gelassen, verängstigt, es entstehen gefährliche und zum Teil kriminelle Parallelgesellschaften. Das Wort no-go-areas taucht immer häufiger auf. Fakten, die bei vielen Menschen zu „Visionen“ führen, die kein Psychiater heilen kann, die aber rechten Rattenfängern Tür und Tor öffnen.
Bereits im Jahr 2018 maßt eine ZDF-Studie sich an, herausgefunden zu haben, dass es sich von allen deutschen Städten in Gelsenkirchen am schlechtesten leben lasse. Platz 401. Fast alle Ruhrgebietsstädte schneiden übrigens nur wenig besser ab. Der empörte Aufschrei darüber ist letztlich bourgeoises Affentheater, um das man im Ruhrgebiet noch nie viel gegeben hat. Die Schriftstellerin Ilse Kibgis hat in einem ihrer Texte schon vor langer Zeit zum Ausdruck gebracht, was diese Stadt für sie einst lebenswert machte: meine Stadt ist keine Konkurrenz für touristische Sonderangebote, aber sie ist der Kreis, der mich einschließt, die Mauer, die mich schützt.
Daran fehlt es heute.
Der 1997 verstorbene Künstler Alfred hat es auf den Punkt gebracht:„Es ist ein usurpatorischer Akt, die ganze Gesellschaft nach den Bedürfnissen der Wirtschaft auszurichten. Eine derart zugerichtete Gesellschaft kann nur eine zutiefst inhumane sein. Eine Gemeinschaft zur Erfüllung des Lebens kommender Zeitgenossen in ständigem Austausch über ihre Angelegenheiten ist eine derart zugerichtete Gesellschaft jedenfalls nicht. Und damit auch keine demokratische.“
2. Dann kommt es mir immer noch so vor, als wenn ich dort unter lauter Verwandten gewohnt hätte
Ilse Kibgis, 65 Jahre, Schriftstellerin (verstorben 2015)
die Menschen meiner Stadt
sind Kumpel
die am schwarzen Roulette
ihre Knochen verspielten
ihre Sprache ist der
Bergmannsjargon
Worte aus Erde und Stein
meine Stadt ist keine Konkurrenz
für touristische Sonderangebote
aber sie ist der Kreis
der mich einschließt
die Mauer die mich schützt
das Leben dessen Pulsschlag
mich durchströmt
(aus: Ilse Kibgis: Meine Stadt ist kein Knüller in Reisekatalogen)
Ich stamme selber aus einer Bergmannsfamilie. Mein Vater ist damals, das heißt Anfang der 20er Jahre, aus Posen zugewandert. Alle seine Geschwister sind übrigens in den damals so genannten „Goldenen Westen“ gekommen, da hat einer den anderen nachgezogen. Denen ist ja auch alles mögliche versprochen worden: Geld, eine Wohnung, womöglich ein halbes Häuschen in einer Bergarbeitersiedlung. Die meisten dieser Versprechungen wurden auch gehalten, vor allem der Arbeitsplatz auf der Zeche. Ende der 20er Jahre kam dann allerdings ein wirtschaftlicher Wandel, und die meisten der Bergleute wurden arbeitslos. Mein Vater war sieben Jahre lang arbeitslos; erst in der Nazi-Zeit hat er wieder eine Arbeitsstelle gefunden. Aber zu welchem Preis! Denn es war doch bei den Nazis alles von Beginn an nur auf Aufrüstung angelegt. Ich glaube, viele Menschen ahnten aber damals nicht einmal, wo das noch hinführte, und als sie es bemerkten, da war es auch schon zu spät.
Die sieben Jahre, die mein Vater arbeitslos war, waren natürlich zunächst einmal eine sehr schlimme Zeit, da wir total verarmten. Mein Mutter ist zu der Zeit für zehn Mark im Monat putzen gegangen, was selbst für damalige Verhältnisse doch sehr wenig Geld war; mein Vater hatte zudem keinerlei Perspektiven, irgendwo anders eine Arbeitsstelle zu finden. Und doch muss ich mich immer wieder wundern, wenn ich an meine Kindheit zurückdenke: heute wird viel zuviel über Geld geredet, über Verdienstmöglichkeiten, über Konsumwünsche, die die Menschen haben. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass meine Eltern in der schlimmen Zeit jemals über Geld geredet hätten. Wahrscheinlich hatten sie so wenig davon, dass es sich gar nicht lohnte, darüber zu reden.
Trotz unserer Armut hatte ich damals aber nie das Gefühl von Armut. Wir wohnten übrigens in einer Bergarbeitersiedlung in Horst-Süd, und ich muss hinzufügen, dass zu der Zeit alle Bergleute arm waren. Man kann es auch so sagen: Alle Menschen dort hatten gleich wenig Geld zur Verfügung. Man hatte also schon deshalb nie das Gefühl der Armut, weil niemand in der Siedlung mehr besaß. Und für das Lebensnotwendigste reichte es immer. Jeder hatte schließlich einen kleinen Garten hinter dem Haus, ein Schwein, manche hatten eine Ziege, Hühner, und auf diese Weise hat man sich irgendwie über Wasser halten können. Nur gab es eben keine finanziellen Mittel, sich darüber hinaus noch etwas anzuschaffen.
Die Siedlung war ohnehin eine Welt für sich, aus der man auch nur selten herauskam. Es hatte doch damals noch kein Mensch ein Auto. Wir haben zwar oft Ausflüge gemacht mit den Hausbewohnern, mit den Nachbarn; aber natürlich ging es immer zu Fuß, und man blieb unter sich. Die kleinen Kinder wurden in eine Karre gesetzt, und СКАЧАТЬ