Название: Die Seele des Ruhrgebiets wäre dann weg
Автор: Thomas Hölscher
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783750218901
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Diese diffamierende Einstellung bleibt bewusst oder unbewusst noch lange in den Köpfen der Leute. Die „Volksschule“ Anfang der 60er Jahre lag direkt neben der Siedlung Schüngelberg der Zeche „Hugo“. Der größte Teil der Mitschüler stammte aus Bergarbeiterfamilien. Und er blieb auch auf dieser Schule. Nach dem vierten Schuljahr, 1964, gehen aus meiner Klasse von ungefähr 40 Schülern gerade mal vier zu weiterführenden Schulen. Unsere Väter sind kaufmännischer Angestellter, Polizeibeamter, Lehrer und Steiger. Steiger war zwar auch einer vom Pütt, aber eben doch etwas Besseres. Aber Arbeiterkinder haben auf dem Gymnasium ohnehin nichts zu suchen: Diese Fülle an Lebensweisheit wurde auf dem Max-Planck-Gymnasium in Gelsenkirchen noch Ende der 60er Jahre mit der größten Selbstverständlichkeit vertreten. Und nach dieser Maxime wurde auch gehandelt.
Oder der Ersatzdienst als Kriegsdienstverweigerer: ich arbeite Anfang der 70er Jahre in einem Krankenhaus in Gelsenkirchen-Horst, und die große Mehrheit der Patienten sind damals noch Bergleute auf der Zeche „Nordstern“. Der Umgangston ist rau, aber herzlich; vor allem duzt sich jeder mit jedem, und anfangs kann ich das einfach nicht, und schon nach kurzer Zeit habe ich den Ruf weg, ein feiner Pinkel zu sein. Als ich eines Tages von einem Patienten darauf angesprochen werde, schütte ich dem mein Herz aus, und der Pfleger, mit dem ich an diesem Tag zusammen Dienst habe, will sich fast totlachen: Na, wenn du sonst keine Probleme hast, ist es ja gut! Er selber ist einer der ersten Bergleute, die nach der Kohlekrise Ende der 60er Jahre in einen pflegerischen Beruf umgeschult haben. Und mit dieser Bemerkung ist sein Verständnis für mein Problem auch schon erledigt. Komm Kalle, wendet er sich wieder dem Patienten zu; heb mal die fette Dupa hoch, wir müssen weiter ....
Der Bergbau war immer viel zu selbstverständlich, als dass man als jemand aus dem Kohlenpott viel Aufhebens darum gemacht hätte, geschweige denn darauf in irgendeiner Weise hätte stolz sein können. Er war nie mehr als ein ebenso lästiges wie notwendiges Etwas, das die Industrialisierung im 19. Jahrhundert mitgebracht und an das man sich gewöhnt hatte, das sich durch Bergschäden an Straßen und Häusern, durch Ruß und Kohlenstaub auf der Wäsche ohnehin immer wieder in Erinnerung brachte. Von der Zersiedlung der Landschaft ganz zu schweigen: Mit Ausnahme der Städte der Hellwegzone, die zumindest über einen kleinen Kristallisationskern für eine urbane Entwicklung verfügten, konnte von kommunaler Planung kaum die Rede sein. Das Sagen hatten die Unternehmer, und wo man auf Kohle stieß, wurde ein Schacht abgeteuft, entstanden in der Folge Wohnmöglichkeiten zwischen Fördertürmen und Bauernhöfen. Noch heute kann man sich mit Fug und Recht fragen, ob die Städte des nördlichen Ruhrgebiets wirklich Städte sind oder nicht doch eher ein ziemlich chaotisches und zusammenhängendes Durcheinander von Siedlungen und Industriebrachen.
Ein lästiges Etwas eben, das erst auffällt, wenn es verlorengeht.
Die Fakten sind eindeutig, der Bergbau befindet sich in den letzten Jahren des 20.Jahrhunderts im steilen Sturzflug. Und doch sind es zwei verschiedene Dinge, über Zechenschließungen und Zusammenlegungen in den Zeitungen zu lesen und eines Tages von der Berliner Brücke aus zu sehen, dass der Schacht der Zeche „Consol“ gegenüber dem Schalker Markt tatsächlich stillgelegt ist. Es verursacht Unbehagen, dass das Selbstverständliche plötzlich nicht mehr selbstverständlich ist. Der Kohlenpott ohne Zechen? Kaum vorstellbar.
Die Zahlen sprechen aber eine eindeutige Sprache. Die deutsche Kohle ist auf dem Weltmarkt viel zu teuer. Eigentlich unvorstellbar, aber wir können eine Tonne Kohlen aus Australien, den Vereinigten Staaten, Südamerika oder China kaufen, und jedes Mal ist diese Tonne inklusive Transport um die halbe Welt noch wesentlich billiger, als wenn deutsche Bergleute Hacke und Schaufel noch in die Hand nehmen. Weshalb diese Kohle so billig ist, wer für diese Kohle im Zweifelsfall mit seiner Gesundheit oder sogar seinem Leben bezahlen muss, das interessiert niemanden. Kinderarbeit wie in Kolumbien, 12000 Bergbautote pro Jahr wie in China, Umweltvernichtung durch rigorosen Tagebau, das alles sind Dinge, über die sich trefflich moralisieren lässt; Einfluss auf den Weltmarkt haben solche Überlegungen jedenfalls nicht.
Die Kaltschnäuzigkeit, mit der das Spiel wirtschaftlicher Daten im internationalen Monopoly über alle Belange der Menschen gesetzt wird, kann nach dem Vollzug der deutschen Einheit ohnehin kaum noch schockieren, ruft nur noch gelegentlich Entrüstung hervor. „Ich weiß aber sehr wohl, dass Wirtschaft ohne Ethik einfach Teufelskram ist“, meint ein katholischer Geistlicher, dessen Gemeinde zeit ihres Bestehens eng mit dem Bergbau verbunden war. Wer will dieser Ansicht widersprechen? Bloß: Weiß die andere Seite das auch?
Aber welche andere Seite überhaupt?
Im Ruhrgebiet war es immer schon schwierig, den bösen Kapitalisten beim Namen zu nennen. Mit wenigen Ausnahmen (wie etwa Krupp) fehlen die großen Patriarchen, und vor allem die Entwicklung des Bergbaus war angewiesen auf den Zusammenschluss vieler Geldgeber, der sog. Gewerken, weil das finanzielle Risiko bei der Abteufung eines Schachts in aller Regel groß war. Und weil der Region selber die bürgerliche Mittel- und Oberschicht weitgehend fehlt, kommt das notwendige Kapital oft von weither, wie die Namen einiger Zechen belegen: Hibernia, Holland, Consolidation, Shamrock.
Die wirtschaftlichen Interessen von heute heißen in einer wirtschaftlich globalisierten Welt kurz und bündig „Sachzwänge“, und die Politiker müssen als Sündenbock herhalten. Vor allem natürlich die CDU und die FDP, aber inzwischen kriegen auch die „Roten“ (gemeint ist die SPD) ihr Fett weg: Hat man in Nordrhein-Westfalen nicht tatsächlich viel zu lange gezögert, die Situation der traditionellen Schwerindustrie realistisch einzuschätzen und den Leuten die Wahrheit zu sagen? Ihnen womöglich sogar „Sand in die Augen gestreut“? Wusste man doch gerade an Rhein und Ruhr immer sein treuestes Wählerpotential. Die Rathäuser an der Ruhr sind rot: das war so, seit ich denken kann.
Und die Gewerkschaften? Waren sie in den fetten Jahren vielleicht wirklich nur das Dienstleistungsunternehmen, das den Bergleuten ihre jährlichen Lohnzuwächse verschaffte, wie einige Gesprächspartner kritisieren? Auf jeden Fall bekommen sie jetzt die Quittung: die Basis tritt massenweise aus, und die Funktionäre können tun, was sie wollen, sie verhindern doch nichts mehr.
Die Spirale von Frustration und Aggression findet immer Sündenböcke; das Gefühl der Ohnmacht lässt auch den Ruf nach radikalen Lösungen laut werden: Wenn ich hier was zu sagen hätte, gibt sich einer der Gesprächspartner seinen Phantasien hin, so wie früher der Hitler .... 25 Jahre später zeigen sich die „Volks“-Parteien, die keine mehr sind, entsetzt über die Ergebnisse der rechten bis rechtsradikalen AfD vor allem in den Städten der Emscher-Zone. Ein älterer Bergmann erinnert sich noch an die Nazi-Zeit, als „man“ vermeintlich das Sagen hatte: „Die mickrigsten Figuren liefen plötzlich nur noch mit Uniform und Pistole durch die Gegend. Und das waren ja auch alles Kumpel. Es war einfach nur erbärmlich, wie diese kleinen Scheißer mit Uniform und Pistole herumliefen.“
Irgendwann wende ich mich an einen Verlag in Ost-Berlin mit der Frage, ob man interessiert sei an einem Buch über das Ende des Bergbaus im Ruhrgebiet. Bei einem Gespräch erklärt mir die zuständige Lektorin, dass sie dieses Thema natürlich für sehr interessant halte; aber, fügt sie hinzu, glauben Sie wirklich, hier in Ostdeutschland hätten die Menschen für diese Thematik viel Verständnis? Bei uns wurde schließlich gerade ein ganzes Land als Industriestandort platt gemacht, kein Hahn hat danach gekräht. Und bei uns schicken sie die Leute mit Ende 50 noch zum Sozialamt ....
In meine halbherzige Empörung über die bösen Kapitalisten, die mit uns machen, was sie wollen, mischt sich so etwas wie Scham. Ist mein plötzliches Interesse für den Bergbau und seine Bedeutung für diese Region nicht tatsächlich ein ziemlich weinerlicher Unfug? Seele des Ruhrgebiets! Nach Else Stratmann und tausend Worten Bottropisch der nächste Affe im Tulpenbeet?
Was genau geht denn eigentlich verloren? Zechenanlagen? Fördertürme? Kokereien?
An deren Verschwinden hatte man sich doch auch vor 25 Jahren schon lange gewöhnt: СКАЧАТЬ