Название: Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel
Автор: Iris Weitkamp
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783738055764
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Diese sah erst Inga, dann Dr. Oliveira aufmerksam an. Irgend etwas war hier im Busch. Hoffentlich hatte die Patientin sich nicht in den größten Frauenschwarm der Klinik verliebt.
Dr. Prudens, der ihren Blick zu Dr. Oliveira hinüber falsch deutete, biss die Zähne zusammen. Von Bärbel, für die er eine besondere Schwäche besaß, hätte er irgendwie mehr erwartet. Frustriert wandte er sich von ihren entzückenden Sommersprossen ab und dem Monitor zu.
„Schon in Ordnung. Wir sind gerade fertig geworden“, antwortete Robson geistesgegenwärtig und erhob sich.
Inga wünschte inständig, wenigstens halb so souverän reagieren zu können. Stattdessen fühlte sie, wie ihr Gesicht rot anlief und ihr Mund trocken wurde. Sie musste sich zwingen, nicht hastig aufzuspringen. Blindlings angelte sie nach ihrer Tasche und drückte sich zur Tür hinaus.
Mit immer noch bis zum Halse pochendem Herzen durchquerte Inga eilig den Clamart-Park. Sie lief durch die Rote Straße, Kleine und Große Bäckerstraße, über den Marktplatz und die Burmeisterstraße entlang bis in Sabijes Kanzlei, wo sie sich nach Atem und Fassung ringend an den Empfangstresen lehnte. Gottlob, die Sekretärin erfasste die Lage mit einem Blick.
„Hallo, Frau Döring. Frau Rahmani müsste jeden Moment zurück sein. Sie hat bestimmt nichts dagegen, wenn Sie in ihrem Büro warten. Gehen Sie nur durch ...“
Dankbar flüchtete Inga in den behaglichen Raum im hinteren Bereich der Kanzlei, in dem Orient und Okzident sich trafen. Zu aufgewühlt, um sich zu setzen, wanderte sie langsam hin und her. Bei jedem Besuch freute sie sich an den üppigen Pflanzen und farbenprächtigen albanischen Teppichen, an einer fein verzierten Lampe, einer osmanischen Schale. Sitzbezüge und Gardinen nahmen einzelne Farben der Teppiche wieder auf. Um den Eindruck von Exotik nicht zu übertreiben, waren die Möbel dagegen schlicht und modern gehalten. Der Schreibtisch und das große Regal mit Fachliteratur strahlten Sachlichkeit und Kompetenz aus. Inga schien es, als vereine dieses Büro genau wie seine Besitzerin in sich alle Vorzüge der verschiedenen Länder und Kulturen, die sie geprägt hatten.
Sie bemerkte, wie die Anspannung von ihr abfiel, während sie die Hand nach der Misbaha, die Gebetskette, ausstreckte, die stets in einem hölzernen Kästchen auf dem Schreibtisch bereit lag. Langsam ließ sie Perle für Perle durch ihre Finger gleiten. Es gibt keinen Gott außer Allah ... Merkwürdig, dachte Inga, dass jede Religion sich für die einzig wahre hält und sie sich doch so ähneln. Ob Imam, Priester oder Rabbi - stets bleibt es männlichen Stimmen vorbehalten, Gott anzurufen.
„Ahlan wa-sahlan. Willkommen.“ Sabije betrat das Büro, legte ihre Aktentasche auf einen Stuhl und umarmte Inga herzlich.
„Schön, dass du mich besuchst. Ich habe eine Stunde Zeit. Wollen wir zum Italiener rüber oder uns etwas liefern lassen? Ich muss dir unbedingt von Magnus erzählen.“
„Lieber was liefern lassen. Wer ist Magnus?“
„Ein sehr sympathischer Spezialist für Einschusslöcher. Moment ...“, Sabije drückte eine Taste an ihrem Telefon.
„Gemma, bitte bestellen Sie uns eine kleine Pizza Piccante und ...“, sie sah fragend zu Inga herüber.
„Eine Pizza Spinaci, bitte. Auch eine kleine.“
„Haben Sie das? Danke.“ Sabe wandte sich wieder an ihre Freundin. „Nun sprich dich aus. Was ist passiert?“
„Woher weißt du nur immer so schnell Bescheid?“
„Dein Gesicht hat es mir sofort verraten. Und die Perlen. Jedes Mal, wenn du die Misbaha zur Hand nimmst, bist du wegen irgend etwas sehr erregt. Bevor du mir nicht gesagt hast, was es ist, kann ich dir mein kleines Erlebnis nicht erzählen.“
Nachdem Inga ihre Untersuchung ausführlich geschildert hatte, berichtete Sabije von einer vielversprechenden Verabredung mit dem erwähnten Magnus, schien aber nicht ganz bei der Sache. Sie kam wieder auf Ingas Untersuchung zurück. „Wie wird es denn jetzt weitergehen? Macht die Heilung Fortschritte?“
Inga registrierte, dass Sabe sich mit Bemerkungen über Dr. Oliveira zurückhielt und sich stattdessen auf die medizinische Seite konzentrierte. Irgend etwas schien an ihr zu nagen. Inga wusste, ihre Freundin würde nicht darüber sprechen. Nicht, bevor sie die Zeit als reif dafür befand.
„Meine Hausärztin sagt mir, ich soll schonen und hochlagern und kühlen“, seufzte Inga. „Der eine Krankengymnast vertröstet mich wochenlang. Der nächste zitiert Statistiken, wonach eher zuviel tun schadet als zu wenig. Ich bekomme von sechs Leuten zehn Meinungen, und das ist nicht annähernd so lustig, wie es sich anhört.“
„Und was sagt dir dein Bauch?“ Sabije stellte stets die richtigen Fragen.
„Wahrscheinlich sollte ich mir einen neuen Physiotherapeuten suchen und tatsächlich Gas geben, wie der Oberarzt gesagt hat. Nur - wen soll ich diesmal ausprobieren? In Lüneburg scheint es hunderte zu geben.“
„Marianne war bei einer kleinen Praxis in der Altstadt, und einen Klienten habe ich auch schon dorthin geschickt. Bis jetzt habe ich nur Gutes von diesem Therapeuten gehört. Seine Freundin ist bei Janne in der Tanzgruppe. Er heißt Levin. Michael Levin.“
zwei
Am Morgen, an dem ihr erster Termin bei dem Physiotherapeuten Michael Levin anstand, spazierte Inga ahnungslos vom Parkplatz bei den Sülzwiesen in Richtung Innenstadt. Sie liebte es, zu Fuß unterwegs zu sein. Es war der erste milde Frühlingstag nach einem langen Winter. Inga genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht, öffnete den Reissverschluss ihrer Jacke und lockerte den Schal: himmlisch. Später sollte sie sich an jedes Detail erinnern, an die genaue Form der Bilderbuchwolken am blauen Himmel, die Pflastersteine der Straße, daran, wie die Frühlingssonne auf die dunkelroten Klinker der Hausmauer fiel. Auch nach Jahren noch würde sie, wenn sie die Augen schloss, den andalusischen Blumenkübel neben der Tür sehen, in dem später Petunien und Brachyscome wuchern sollten. Vorerst jedoch ahnte sie nicht, dass ein einziger, Sekundenbruchteile dauernder Augenblick ihr Leben auf den Kopf stellen könnte, dass am Abend dieses Tages nichts mehr sein würde wie bisher.
Gut gelaunt bog Inga von der Unteren Ohlinger Straße in die Christel-Heinz-Straße ein. Sie schritt an der blutrot gestrichenen Fassade von Haus Nummer vier vorbei, Nummer sechs ... Nummer acht. Hier musste es sein. An der Mauer wies ein blauweißes Schild aus maurischen Fliesen den Weg:
Praxis für Physiotherapie
Michael Levin
Eingang im Hof
Daneben befand sich ein großes, hölzernes Tor, dessen rechter Flügel einladend offenstand. Inga trat in einen Innenhof mit berankten Wänden, mehreren Sträuchern und sogar einem kleinen runden Springbrunnen, der noch mit altem Laub bedeckt im Winterschlaf lag. Dem Tor gegenüber duckte sich ein kleines, windschiefes Fachwerkhaus aus rotem Backstein und krummen Holzbalken. Auch hier ein Schild. Links neben der Haustür stand ein großer, andalusischer Blumenkübel, in dem erste Stiefmütterchen blühten. Rechts eine rustikale Holzbank, davor ein Tisch aus einem alten Mühlrad. An der Hauswand leuchtete das gleiche gelbe X aus gekreuzten Brettern, Symbol des Widerstands gegen Atomkraft, das auch am Eingangstor hing. Spatzen hüpften über die Feldsteine, mit denen der Hof gepflastert war. In einem heruntergekommenen Nachbarhaus spielte СКАЧАТЬ