Название: Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel
Автор: Iris Weitkamp
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783738055764
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Beim Gedanken an Kays Naturgeschöpfe musste er an die hellblonde Patientin denken, die heute zum ersten Mal in seine Praxis gekommen war. Sie hatte etwas eigenartig gewirkt, geistesabwesend. Diese Abwesenheit, ihre zarte Figur und ihr helles, fast weißblondes Haar hatten sie im Gegenlicht wie eine Fee aus der Artus-Sage wirken lassen. Wenn sie wirklich aus einer anderen Welt aufgetaucht wäre, könnte dies zumindest ihre Zerstreutheit und Atemlosigkeit erklären ...
Ach, ich bin ein hoffnungsloser Romantiker, dachte Michael. In Wirklichkeit gingen ihr wahrscheinlich einfach nur eine Menge Dinge im Kopf herum.
Mit einer Tüte frischer Biobrötchen unter dem Arm wartete Inga am nächsten Morgen vor der Kanzlei auf Sabije, um sich bei ihrem Schritt in die Arbeits- und Wohnungslosigkeit unterstützen zu lassen.
„Moin Sabe, schaffen wir das bis um zehn?“
„Mit Allahs Hilfe habe ich dich bis dahin zur Umkehr bewegt.“ Sabije war mit leerem Magen nicht zu genießen.
Inga beeilte sich, den kleinen Besuchertisch zu decken und Sabije die Brötchentüte hinzuhalten. Während ihre Rechtsanwältin kaute, versuchte Inga, die Notwendigkeit ihres Tuns zu erklären.
„Ich weiß, es klingt ein bisschen verrückt ... Es hat eigentlich nichts damit zu tun, dass ich verliebt bin, jedenfalls nicht direkt. Aber mir ist gestern so allerhand klar geworden. Im Grunde war der Armbruch doch ein Glück. Ohne den Unfall würde mein ganzes Geld jetzt schon in der Werbeagentur stecken, und ich müsste bis an mein Lebensende in dieser Tretmühle ackern. Ja, schon gut“, sie hob abwehrend beide Hände, „Bis vor kurzem war ich ganz wild drauf. Oder dachte es zumindest. Aber ich bin mir absolut sicher: Das kommt für mich nicht mehr in Frage ...“
„Ist dir bewusst, dass Herr Levin gebunden ist? Er lebt mit einer Frau und deren Kindern zusammen und hat mit seiner Exfrau zwei erwachsene Töchter.“
„Ja, ich weiß. Du hast so etwas erwähnt.“ Irgendwann in der Nacht hatte Inga sich an Sabijes beiläufige Bemerkung erinnert: ‚Seine Freundin ist bei Janne in der Tanzgruppe’. „Aber es ändert nichts. Ganz egal, wie es mit ihm weitergeht, ob es mit ihm weitergeht, ich werde gleich in die Agentur gehen und kündigen. Und ich ziehe nicht zurück in die Stadt. Du musst mir helfen, aus dem Mietvertrag wieder raus zu kommen.“
„Und was wirst du stattdessen tun? Entschuldige dass ich frage, aber hast du eine Idee, wovon du in Zukunft leben wirst? Und wo du wohnen willst, wenn du die Wohnung in Marunthien räumen musst?“
„Zunächst mal kann ich von dem Geld zehren, das ich sonst in die Agentur gesteckt hätte. Im Wendland brauche ich nicht viel. Und danach ...“, Inga zuckte die Schultern, „Keine Ahnung. Ich könnte bei Drossels jobben oder bei einem Bauern. Mich ein paar Wochen auf den Kartoffelroder stellen ...“
„Auf den Kartoffelroder! Für fünf Euro die Stunde.“
„Es wäre ja nicht für immer. Irgend etwas wird sich schon ergeben. Und wohnen ... Meine Güte, wenn die Wohnungsbesitzer wiederkommen, ist Sommer. Zur Not schlafe ich auf Petersens Heuboden.“
Sabije konnte nicht umhin, der Freundin zu ihrem Mut zu gratulieren. Vor ein paar Monaten hatte sie eine Heidenangst gehabt, Inga würde sich nie von der schrecklichen Trennung von Detlef erholen.
Als Inga damals die lieblose Beziehung, in der die von ihr so ersehnten Zukunftspläne niemals Gestalt annehmen würden, löste und ausziehen wollte, hatte er ihr die schrecklichsten Beschimpfungen an den Kopf geworfen. Und sie dann, als sie anfing Widerworte zu geben statt sich wie gewohnt seinem aufgeblasenen Ego unterzuordnen, ins Gesicht geschlagen. Wobei der körperliche Schmerz nicht so schlimm gewesen war wie die Erkenntnis, jahrelang Wasser an eine längst verdorrte Hoffnung verschwendet zu haben.
Glücklicherweise gab es so viele positive männliche Bezugspersonen in Ingas Leben, den sanften Vater, Bruder Ben und ihren Kumpel Jörg, dass sie keine pauschale Abneigung gegen das andere Geschlecht zurückbehalten hatte. So blieb ihr die männerfeindliche Verbitterung erspart, mit der nicht wenige von Sabijes Klientinnen jeden Vertreter dieses Geschlechts angifteten, egal ob Mistkerl oder Heiliger. Ingas grenzenlose Lebensfreude, ihre Fähigkeit, in jedem Schutthaufen noch das bunte Glassteinchen wahrzunehmen, tat ein Übriges. Sabije bewunderte Ingas tapferes Vertrauen in das Schicksal und ihre Bereitschaft, Risiken einzugehen. Sich trotz aller Nackenschläge immer wieder neu einzulassen, auf Menschen und andere Abenteuer.
Allmählich begann sie, sich für Ingas Pläne zu erwärmen. Tatsächlich konnte eine berufliche Veränderung von Vorteil sein, solange Detlef am selbem Arbeitsplatz ein und aus ging. Gewohnt, einen komplexen Sachverhalt Stück für Stück zu klären, nahm sie sich vor, Ingas unglückselige Verliebtheit zunächst außen vor zu lassen, das Problem des Mietvertrags am Nachmittag zu lösen und erst einmal alle Energie auf das Naheliegendste zu richten. Sie nahm ihr zweites Brötchen mit hinüber zum Schreibtisch und fuhr den Rechner hoch.
„Dann wollen wir mal sehen, dass wir deine Kündigung hieb- und stichfest formulieren. Du räumst den Tisch ab, ich schreibe.“
Etwas mulmig war es Inga denn doch, als sie die Werbeagentur betrat. In der Tür zu ihrem Büro prallte sie mit Detlef zusammen, der einen Stapel Entwürfe unter dem Arm trug. Ihre Entwürfe. Arbeiten, die sie für eine große Körperpflegeserie angefertigt hatte.
„Lässt die gnädige Frau sich auch mal wieder sehen?“ Seine kalten Augen musterten sie hochmütig. Angriff war schon immer seine beste Verteidigung gewesen.
„Ich sehe ja, du vertrittst mich nur zu gern“, entgegnete Inga mit einem vielsagenden Blick auf die Unterlagen.
Mein Gott, wie hatte sie jemals etwas an ihm finden können. Nichts war geblieben von ihren Gefühlen, nicht einmal Hass. Ein gewisses Mitleid vielleicht. Detlef, der eitle Pfau, der immer um sich selbst kreiste, der nach oben buckelte und nach unten trat. Der anderen die Ideen klaute, weil ihm selbst nichts mehr einfiel, der nicht damit klar kam, dass er älter wurde und sein Haar schütter. Jetzt bepinkelte er sich fast vor Schadenfreude, weil Inga Ärger erwartete. Er würde ihr nie verzeihen, dass sie ihn verlassen hatte.
Auf dem Weg zum Chef kam Inga die grell Lackierte entgegen.
„Hallöchen meine Liebe, bist du wieder gesund?“ flötete sie und schmackte rechts und links neben Ingas Wangen Küsschen in die Luft.
Inga lächelte mit gefletschten Zähnen zurück. Was waren wir hier alle modern und aufgeschlossen. Vom Laufburschen bis zur Firmenleitung duzte jeder jeden, Bussibussi, eine große glückliche Familie. Bah. Nicht mehr lange, und sie würde dieses Affentheater für immer hinter sich lassen.
Ihr Chef winkte sie auf ihr Klopfen sofort in sein Allerheiligstes und schloss die Tür. An seiner verlegenen Art, sich die Nase zu reiben, erkannte sie, dass auch er eine Entscheidung getroffen hatte. Sie setzten sich an den Konferenztisch. Die Tür ging wieder auf, und zu Ingas Überraschung traten die beiden anderen Seniorpartner ein, gefolgt von den Grafikern und Textern. Detlef und die Orangerote nahmen dicht nebeneinander СКАЧАТЬ