Название: Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel
Автор: Iris Weitkamp
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783738055764
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Der Bruch heilte gut. Zwei Kontrolltermine, nach einer und nach zwei Wochen, waren zufriedenstellend verlaufen. Die Bürokratie in der Klinik bedeutete jedoch immer wieder eine harte Geduldsprobe. Zwei verschiedene Röntgenbereiche, die Unfallambulanz, die Chirurgie um den Chefarzt und ein auswärtiger Chirurg bildeten ein undurchschaubares Geflecht aus teils einseitigen, teils rivalisierenden Verbindungen. Inga hasste es, an immer neue Ärzte zu geraten, die sie nie zuvor gesehen hatte. Ihr Auto brachte sie stets zum selben Mechaniker ihres Vertrauens, aber was ihre eigene Gesundheit anging, reichte man sie nun durch wie ein Maschinenteil. Und jeder erzählte ihr etwas anderes: Sie solle auf jeden Fall einen Chirurgen konsultieren. Sie solle sich lieber an einen Radiologen wenden. Sie könne in die Sprechstunde der Chefarztabteilung kommen. Sie müsse zum externen Chirurgen gehen ...
Schließlich begegnete Inga am Zeitungskiosk im Erdgeschoss ihrem rettenden Engel. Sie griff nach demselben Schokoriegel, nach dem gleichzeitig eine Frau mit zerzausten, rotblonden Locken die Hand ausstreckte. Die beiden Frauen sahen sich an und lachten.
„Ich brauche unbedingt was für meine Nerven“, schimpfte die Rotgelockte fröhlich.
„Haben Sie auch Ärger mit der Radiologie?“ Das konnte Inga nun wahrhaftig nachfühlen.
„Nein, mit den Chirurgen. Genauer gesagt, mit einem von ihnen ...“
Es stellte sich heraus, dass die Rothaarige Sekretärin und Mädchen für alles des Chefarztes der Chirurgischen Abteilung war. Außerdem unglücklich verliebt in einen der Ärzte, der für sie unerreichbar schien. Die Frauen schütteten einander ihr Herz aus wie es manchmal passiert, wenn zwei fremde Menschen im seelischen Ausnahmezustand einander sympathisch finden. Zum Abschied bot sie an: „Melden Sie sich das nächste Mal direkt bei mir, und ich schleuse sie durch. Fragen Sie nach Bärbel Lohmann.“
Das Telefon klingelte. Inga stellte ihren Kakao vorsichtig auf den Fußschemel.
„Hallo, Inga. Ich wollte nur mal hören, wie es dir so geht.“
„Hallo, Sandra. Hier ist alles in Ordnung - und bei dir?“ Inga bemühte sich um einen freundlichen Ton, während sie innerlich mit den Zähnen knirschte. Ihre Schwester Sandra, drei Jahre älter und in Frankfurt mit einem Zöllner verheiratet, befand sich auf telefonischer Patroille. Inga ahnte, was gleich kommen würde, und wappnete sich.
„In Ordnung nennst du das, wenn du mit gebrochenem Arm ganz allein in der Pampa sitzt? Mutter hat mir alles erzählt. Du hättest mit dem armen Detlef nicht so hart sein sollen, dann wäre das alles nicht passiert.“
Wenn ich die Wahl hätte, noch eine einzige Nacht bei Detlef zu schlafen oder mir auch den anderen Arm zu brechen, wüsste ich, was ich nehmen würde, dachte Inga. Merkwürdig ... so klar hatte sie das bis jetzt nicht empfunden. Wenigstens in diesem Bereich schien sie Fortschritte zu machen. „Ich habe sehr gute Freunde, die sich um mich küm- “
„Du meinst ja wohl nicht diese stinkenden Hinterwäldler, die in deinem Kaff hausen?“ Sandra lachte schrill. „Schafhirten und Randalierer - ich bitte dich! Würd mich nicht wundern, wenn dich dieser Umgang irgendwann deine Stellung in der Agentur kostet ...“
Das war wieder typisch Sandra, den Finger zielsicher in die offene Wunde zu legen und darin zu bohren. Inga fragte sich wohl zum hundertsten Mal, welchen Vorteil die Schwester sich dadurch versprach. Seit sie denken konnte, hatte Sandra ihr alles geneidet: Ihre Monchichi-Puppen, das rosa Fahrrad, ihre hellblonden langen Haare, die Freundschaft mit der Tochter des Süßwarenverkäufers ... Was Sandra ihr nicht wegnehmen konnte, hatte sie kaputt gemacht. Inga hegte den Verdacht, dass lediglich die große Entfernung sie mittlerweile daran hinderte, ihr beruflich zu schaden oder sich an ihre Freunde heranzumachen. Es blieb ein genetisches Rätsel, wie aus der Verbindung zweier freundlicher Elternteile ein derart scharfzüngiges Ekel hervorgehen konnte. Bei Sandras Erscheinen nahm die gesamte Verwandtschaft unwillkürlich Haltung an und atmete erst wieder aus, wenn sie den Raum verließ.
Ben, jüngerer Bruder und schwarzes Schaf der Familie, hatte einmal hinter ihrem entschwindenden Rücken ein ‚rührt euch!’ gemurmelt und beinahe einen Familienkrieg ausgelöst. Er war es aber auch, der die einzig wirksame Methode fand, der ältesten Schwester Paroli zu bieten. Inga und die Eltern lernten den Kniff schnell und betrachteten daraufhin Ben, den jungen Nichtsnutz, mit ganz anderen Augen.
„Du hast sicher Recht, Sandra“, flötete Inga nun nach der ben`schen Methode, „Ich werde darüber nachdenken.“
Was sie nicht beabsichtigte. Was wiederum Sandra argwöhnte, doch schwerlich beeinflussen konnte.
„Nun, ich hoffe, du findest bald einen passenderen Umgang. Bis dahin gute Besserung.“
„Ja, danke. Tschüs.“ Inga seufzte. Wenn es nach ihr ginge, würde sie lieber heute als morgen jeglichen Kontakt mit dieser Frau abbrechen. Aber das konnte sie den Eltern nicht antun. Erstens, weil diese noch größere Schuldgefühle bekommen würden, bei der Erziehung ihres ältesten Kindes versagt zu haben. Und zweitens, weil den beiden eine entsprechend höhere Dosis boshafter Bemerkungen zuteil würde, wenn eine Abnehmerin wegfiele.
Nach diesem deprimierenden Gespräch brauchte Inga dringend Zuspruch von einer befreundeten Seele. Sabije befand sich noch bei Gericht. Sie wählte ihre ‚Nummer für alle Fälle’ in Hamburg.
„Neverland Cut“, meldete sich eine Männerstimme mit professioneller Herzlichkeit.
„Jörg, wie sieht`s aus bei dir? Hast du ´n Moment Zeit?“
„Für dich immer, mein Goldstück.“ Seine Stimme klang sofort um mindestens zehn Grad wärmer. Inga hörte ihn über die Hintergrundgeräusche des Frisörsalons hinweg einige kurze Anweisungen geben. Dann das Zischen der Kaffeemaschine, Porzellangeklapper. Sie sah ihren Kumpel Jörg vor sich, wie er einen Milchkaffee zubereitete, ihn in sein winziges Büro balancierte, das gleichzeitig als Aufenthaltsraum und Hundezwinger diente, und die Tür hinter sich anlehnte. Jörg machte niemals eine Tür ganz zu, um seinen Angestellten das Gefühl zu geben, jederzeit ansprechbar zu sein. Irgendwann hatte ihn ein Freund darauf hingewiesen, dass es leicht als übertriebene Fürsorge ausgelegt werden könne, wenn er diesen Tick auf die Toilettenräume ausdehnte.
„So, jetzt bin ich ganz dein.“ Jörg machte es sich in seinem abgewetzten Schreibtischsessel gemütlich. Inga hörte das Knarzen des alte Leders, welches sich der Körperfülle seines Besitzers anpasste.
„Wie geht es dir, Figaro?“
„Oh, bestens. Den Hamburgern wachsen unaufhörlich die Haare nach, man kann kaum dagegen an schneiden. Und wie sieht`s bei dir aus? Seid Ihr in Marunthien noch im Winterschlaf?“ Er klang merkwürdig aufgedreht, was bedeutete, dass ihm etwas auf die Seele drückte. Doch das würde er niemals direkt zugeben. Inga musste es langsam aus ihm herauslocken, wie einen Einsiedlerkrebs aus einem Schneckenhaus.
„Hab mir die Hand gebrochen, vielmehr den Arm. Ist aber halb so wild.“
„Waas?! Wann? Kann ich dir irgendwie helfen? Nimm dir eine Haushaltshilfe, ich zahle. Taugen deine Ärzte was? Wird das wieder richtig heilen?“ Jörg verschluckte sich fast vor Schreck.
Inga beruhigte ihn damit, dass der Unfall schon eine Weile her und alles unter Kontrolle sei. Bis auf ihren Job natürlich, den bevorstehenden Umzug und ihr Gefühl, zwischen allen Stühlen zu sitzen. Aber mehr als eine schlechte Nachricht pro Tag verkraftete sein sensibles Gemüt nicht. Unter der Art, wie Detlef damals Inga behandelt hatte, hatte Jörg womöglich stärker gelitten als sie selbst.
„Da СКАЧАТЬ