Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel. Iris Weitkamp
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Название: Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel

Автор: Iris Weitkamp

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783738055764

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СКАЧАТЬ Geräusche der Stadt ab.

      Wie schön musste es sein, im Sommer hier draußen auf seinen Termin zu warten. Inga konnte sich vorstellen, absichtlich eine ganze Stunde zu früh zu kommen, nur um auf der Bank zu sitzen und dem Plätschern des Springbrunnens zuzuhören. Hier hatte jemand mit viel Liebe für alte Dinge und südländische Lebensart ein Paradies geschaffen. Einen Ort mit einer sehr friedvollen, ja heilsamen Atmosphäre.

      Inga fand keine Klingel, drückte probeweise die Klinke der Haustür, die sich knarrend öffnete. Drinnen herrschte wie erwartet schummriges Halbdunkel. doch mit seinen gekalkten Wänden und der sparsamen Einrichtung wirkte der kleine Flur trotzdem nicht beengt. Eine Wand war bis auf das Fachwerkgerüst entfernt worden, und in diesem Wartebereich stand eine Sammlung verschiedener antiker Stühle. Inga schmunzelte über die Beschriftung mehrerer Zimmertüren. Altes Messing oder abgeplatzte Emaille verkündeten: ‚Sanitätsbaracke’, ‚privat’, ‚Badkamer’ oder ‚Bei Verlassen des Zuges Handgepäck nicht vergessen’. Auf einem Küchentisch aus der Gründerzeit lagen neben Flyern der Anti-Atom-Bewegung verschiedene Zeitungen aus: Hamburger Abendblatt, Geo, die taz ... Eine angenehme Abwechslung zu den Klatschblättern oder zwei Jahre alten Ausgaben des Spiegel, die man sonst in Wartezimmern fand. Da unter den Anti-Atom-Broschüren keine war, die sie noch nicht kannte, machte Inga es sich mit der taz in einen Armlehnstuhl aus der Jahrhundertwende bequem.

      Ein Mann trat aus der Tür mit der Aufschrift ‚Sanitätsbaracke’, verschwand mit einem „Bitte noch einen Moment“ in einem anderen Raum, kam zurück und bat sie hinein. Sie setzte sich auf den angebotenen Stuhl, er nahm ihr gegenüber Platz. Inga stellte ihre Tasche ab, richtete sich wieder auf. Und dann sah sie ihm zum ersten Mal direkt ins Gesicht.

      Es traf sie ganz unvorbereitet und mit voller Wucht, gerade so, als würde sie von einer Naturgewalt gepackt und emporgehoben, gegen die Wand geschleudert. Sein Blick haute sie einfach um.

      Michael Levin war ein braungebrannter Typ mit einem offenen, etwas jungenhaften Gesicht. In seinem dichten, graumelierten Haar fanden sich Spuren von mittelblond bis hellbraun, was eine Mischung von ungewöhnlichem Reiz ergab. Er trug ein weit aufgeknöpftes, gestreiftes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln in einer interessanten rotbraunen Farbkombination über uralten, ausgeblichenen Jeans. Seine entspannte Körperhaltung, seine Gestik drückte eine gelassene Ruhe aus. Und dann diese wahnsinns Augen, graublau und unglaublich intensiv. Sie schienen direkt bis in Ingas Seele zu sehen, sie zu berühren. Whoa! Inga konnte einfach nicht fassen, was gerade passierte. Sie fühlte ihr Blut im ganzen Körper pulsieren, in den Ohren rauschen ...

      Benommen registrierte sie, dass er auf eine Antwort wartete, auf eine Frage, die sie nicht gehört hatte. Inga hing wie gebannt an seinen Lippen, stellte sich vor, wie es wäre, diesen hinreißenden Mund zu küssen. Darüber hinaus ergaben seine Lippenbewegungen keinerlei Sinn. Nur mühsam gelang es ihr, ihm wenigstens den Entlassungsbericht der Neuen Kliniken zu überreichen. Sprechen war ihr nicht möglich.

      Auch er schien überrascht. Inga bemerkte ein Zusammenzucken in seinen Augen, von dem sie sich wochenlang fragen würde, ob sie es sich eingebildet hatte oder ob es wirklich war. Er beugte sich über das Papier, notierte Stichworte auf einer Karteikarte. Das silberne Amulett, welches er an einer kurzen Lederschnur um den Hals trug, schwang sacht hin und her.

      Inga bewunderte die Linien seines Profils, den eleganten Schwung seiner Handschrift, seine Finger, die den Kugelschreiber hielten. Verwirrt bemühte sie sich, ihm wenigstens halbwegs sinnvolle Antworten zu geben: Welche Übungen hatte sie bisher mit dem Arm gemacht und seit wann? Wie im Traum erlebte sie die Behandlung, ließ ihn ihre Hand nehmen, den Arm bewegen, und konnte es immer noch nicht begreifen.

      Zurück auf der Straße, neben dem Praxisschild an das Tor gelehnt, kam sie wieder zu sich. Die Umgebung hörte auf zu schwingen, der tranceähnliche Traumzustand ebbte langsam ab. Es war, als würde ein geschütteltes Kaleidoskop plötzlich stillgehalten und hunderte Mosaiksteinchen formierten sich neu. Für einen Herzschlag schien die Welt innezuhalten, alles an seinen Platz zu gleiten ... Mit einem Mal wusste sie Bescheid. Dies war sie also, dachte Inga in ehrfürchtigem Staunen. Die Grande Dame amouröser Leidenschaft - die Liebe auf den ersten Blick.

      Widerstrebend wurde sie sich bewusst, dass man sie dringend in der Werbeagentur erwartete. Es kam sowieso einem Wunder gleich, dass man ihr nicht gekündigt, die in Aussicht gestellte Beteiligung an der Firma lediglich aufgeschoben hatte. Sie sollte sich wirklich beeilen. Inga warf einen letzten Blick durch das Tor in den Innenhof, auf die uralte Haustür, hinter der Michael Levin den nächsten Patienten behandelte. Beim Gedanken an seinen ruhigen Blick, seine sanften Hände, breitete sich wieder die Wärme in ihr aus, dieses Gefühl von Sicherheit und nach-Hause-kommen, das sie bei ihm empfand. Und da wusste sie, was sie zu tun hatte.

      Statt quer durch die Innenstadt zu ihrem Arbeitsplatz zu eilen, ging sie zurück zum Auto und fuhr an die Elbe.

      In ihrem schicken Kostüm und mit hochhackigen Schuhen stapfte Inga unbeholfen durch den Sand am Ufer bis zu ihrem Lieblingsplatz. Sie setzte sich in eine geschützte Mulde, schaltete ihr Handy aus und wickelte sich in die alte Decke, die stets im Kofferraum bereit lag. Mittlerweile würde das Meeting mit ihrem wichtigsten Kunden in vollem Gange sein. Und ihr Chef im roten Bereich drehen. Doch das ließ sie seltsam unberührt, gerade so, als ginge es sie nichts mehr an. Ihre unerwartete Begegnung mit der Liebe auf den ersten Blick ging so tief, war ein solches Wunder, dass Inga das Bedürfnis verspürt hatte, sie wie einen kostbaren Schatz an einen sicheren Ort zu schleppen und in Ruhe zu betrachten. Sie ließ den Blick über den Fluss schweifen, über die Felder ringsum und die Bäume am anderen Ufer. Kein Mensch weit und breit. Ja, es war richtig gewesen, hierher zu kommen. In Ruhe über diesen Mann nachzudenken, der in ihr unaufgeräumtes Leben platzte und es noch mehr durcheinanderwirbelte.

      Da - konnte das sein? Ein großer Schatten, mächtige Schwingen ... Inga rührte sich nicht. Ein Fischadler flog über der Elbe dahin, dicht an ihrem Versteck am Ufer vorbei. Jetzt kam er ganz nahe. Sie konnte den kräftigen Schnabel erkennen, das dunkle Brustband auf der schneeweißen Unterseite des Tieres. Ein tiefes Glücksgefühl durchströmte Inga, machte ihr Herz weit und ruhig. Ihr war, als habe sie ein wertvolles Geschenk erhalten. Beim Anblick des Adlers fühlte sie sich eng mit der Natur verbunden, von einer höheren Macht behütet, als Teil eines großen Ganzen. Majestätisch flog der Raubvogel stromaufwärts, und während sie ihm nachblickte, schweiften ihre Gedanken zu der Frage, wo sie selber eigentlich hin wollte im Leben. An die große Liebe, an eine Ehe, daran, Hausfrau und Mutter zu werden, hatte sie schon lange nicht mehr geglaubt. Detlef war eine Notlösung gewesen, eine dürre Hoffnung wenigstens auf ein Kind, irgendwann nebenbei. Und mittlerweile, mit fast vierzig, schien dieser Zug ja wohl längst abgefahren. Stattdessen war sie auf einen anderen Zug aufgesprungen, einen schnelleren, moderneren.

      Bedeutete aber die Agentur wirklich das Richtige für sie, die Erfüllung? Es hatte eine Zeit gegeben, als es sie reizte, dem Konkurrenzkampf standzuhalten, dem Termindruck. Sich immer wieder neu zu beweisen, sich durchzusetzten, zu merken, dass sie gut war. Als jüngste, noch dazu weibliche, Teilhaberin in die Firma einzusteigen. Dann war der Unfall dazwischen gekommen, und mit ihm die Schattenseiten ihres Berufs. Vieles in ihrem Leben war nicht mehr, wie es schien. Anderes, nie beachtetes, dagegen barg ungeahnte Werte. In den letzten Wochen hatte sie begonnen, Vergleiche zu ziehen zwischen den Leuten in ihrem Dorf und ihren Kollegen. Einem Leben in Achtsamkeit, im Einklang mit der Natur und den Menschen um sich herum gegenüber der Hektik und dem Stress einer kurzlebigen Werbewelt. Im Grunde habe ich es schon lange gewusst, dachte Inga, ich wollte es nur nicht wahrhaben.

      Sie schaltete ihr Handy ein, ignorierte alle Nachrichten im Display und wählte die Nummer von Sabije Rahmanis Kanzlei. Nach wenigen Sätzen beendete sie das Gespräch mit einigen beschwichtigenden Worten, unterbrach die Verbindung und schaltete das Gerät wieder aus.

      Lange saß Inga am Wasser und wartete darauf, dass die Sonne elbabwärts im Fluss versank, dort, wohin СКАЧАТЬ