Am Rande. Eine Bemerkung. Anna Lohg
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Название: Am Rande. Eine Bemerkung

Автор: Anna Lohg

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783742722935

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СКАЧАТЬ ist es höchste Zeit, mir dieses Ei zu nehmen, die Klappe zu halten und zu verschwinden. Oder ich zettele in dem Laden endlich eine Revolution an, gegen die Unterdrückung, für die Emanzipation – nicht für die Gleichberechtigung der Geschlechter, das wäre hoffnungslos, das haben schon andere versucht. Doch für den Widerstand fehlt mal wieder die nötige kritische Masse, denn auch in diesem Büro gibt es eine beachtliche Menge, die dem eingebildeten Dr. Voigt seine Einbildungen glauben. Und die andere Teilmenge ist nicht etwa träge, nee, die tut bloß alles, wirklich alles für ihre Unabhängigkeit. Die krallen sich an ihrem Job fest, um sich mit ihrem Lohn, sei der noch so geizig bemessen, die Unabhängigkeit zu wahren, nötigenfalls lassen sie sich dafür auch versklaven.

      "Wo wollen sie denn jetzt mit dem Ei hin?" Diesen Urschrei hört sogar die dumme Aushilfe im Keller, eine Kroatin, übrigens studierte Bauingenieurin.

      "Herr Voigt.", beginne ich höflich meinen Satz, ich denke an die Aufklärung, die Unabhängigkeitserklärung, die Menschenrechte.

      "Für sie immer noch Dr. Voigt."

      "Herr Dr. Voigt.", setze ich erneut an, um ihm die Sache mit dem Ei zu erklären.

      "Wer glauben sie, wer sie sind?" Nun heißt es ganz ruhig bleiben, an den Buddhismus, an das Gleichgewicht der Kräfte, an grüne Wiesen zu denken.

      "Herr Dr. Voigt, die Sache mit dem Ei." Die Sache läuft bisher ganz großartig.

      "Wer redet hier von Eiern?"

      "Sie, sie Eierkopf." Selbstverständlich denke ich sowas nur, sage es nicht.

      "Glauben sie etwa, ihre unqualifizierte Meinung würde hier interessieren?" Nun sind Atemübungen dringend angeraten, Dr. Voigt fängt nämlich gerade erst an. "Was nehmen sie sich heraus?", brüllt er mich an. Lange kann es nicht mehr dauern, bis er sich auf die Brust trommelt. "Glauben sie etwa, sie seien hier im Recht?" Nee, ich glaube, ich bin im Wald bei den Affen, erstaunlich jedoch: ich bin gar nicht im Wald und trotzdem bei den Affen. "Sie meinen, sie könnten hier bestimmen, als wären sie alleine auf der Welt!" Endlich merke ich: der redet gar nicht von mir, der schließt bloß von sich auf andere. "In was für einer Realität leben sie eigentlich?"

      "Realität?", wiederhole ich erstaunt. "Ja, glauben sie denn, sie machen die ganz alleine?" Meinen Job bin ich los, ich nehme mir das Ei und geh es pellen.

      

      So ist das mit den Realitäten, nichts weiter als eine verflixte Halluzination, die in jedem Kopf anders spuckt. Und es wäre nicht weiter beklagenswert, dass jeder die eigene Sinnestäuschung für die allgemein gültige Realität hält, bloß manche Zerrbilder sind wirkungsmächtiger als andere. Real leitet sich ja bekanntlich von erhaben, königlich ab, daher wird Realität stets von Macht beansprucht und weil Macht nicht ohne Gewalt auskommt, sind die meisten Realitäten mit der spitzen Hacke gezimmert. Folglich hat so ein Dr. Voigt recht, wenn er meint, er lebe in einer anderen Realität, in der ich für meine Knechtschaft selbst verantwortlich bin und er damit gar nichts zu tun hat. Global betrachtet bin ich allerdings ein Knecht der ganz privilegierten Sorte, wenn ich mich mit meinem gepellten Ei sodann auf dem Amt wiederfinde, wo sich ein Fallmanager um meine Wiedereingliederung kümmert.

      "Sie sind ja schon wieder hier.", es spricht das blanke Entsetzen aus dem, der für meinen Fall zuständig gemacht wurde, während ich vorerst mit den Schultern zucke. "Sie hätten längst eine geeignete Arbeit finden müssen!"

      Wie ein Kindermärchen kommt es daher: das Elend der Knechtschaft habe in eine prächtige Zukunft geführt. Auf dem leuchtenden Pfad der industriellen Massenproduktion seien wir, mein Fallmanager und ich, voran geschritten in die gegenwärtige Herrlichkeit. Heute verrichten Maschinen rund um die Uhr im Akkord die harte Arbeit. Mit monotonen Bewegungen stellen sie Wohlstand her, wir sitzen daneben und gucken zu. Damit sei das Joch der Industriegesellschaft überwunden und selbige in eine gemütliche Dienstleistungsgesellschaft überführt, lebe es sich nebenbei in einer Wissensgesellschaft, doch ich weiß nicht so ganz genau wovon. Als könne Wissen zur industriell produzierten Massenware werden, die sich verpacken, vermarkten, verkaufen ließe, am Ende hergestellt von Maschinen rund um die Uhr im Akkord oder mal wieder von den Knechten.

      "Wenn sie ständig alles in Frage stellen, kommen sie nicht weiter.", will er mir helfen. "Sie müssen sich den Spielregeln anpassen."

      Mensch ärgere dich nicht, es ist doch bloß ein Spiel: das Spielfeld ist der Markt, die Mitspieler sind allesamt rationale Akteure, Humankapital der Einsatz und gespielt wird nach der etwas wirren Regel, mit der größt möglichen Gier im Besonderen den Nutzen im Allgemeinen zu maximieren. Die Gier ist in diesem Spiel sowas wie der Joker, Egoismus, Überheblichkeit, Selbstgefälligkeit, Missgunst ein gutes Blatt. Das ist jetzt nicht unbedingt ein Knaller, gar das tollste Spiel, Spaß macht es auch keinen, aber darauf kommt es nun wirklich nicht an, denn es geht einzig und allein ums gewinnen.

      "Sie müssen mitspielen, sonst haben sie verloren.", sagt er sanft. "Es kostet sie doch nichts, wenn sie sich ein wenig besser präsentieren!"

      In diesem Spiel bekommt durchweg alles ein Preisschild verpasst und wird umgehend zur Ware gemacht. Damit alles wächst, muss ständig neue Ware her, beliebig, austauschbar und flugs nicht mehr zu gebrauchen. Diesem Wahn verfallen, gilt es den eigenen Wert zu steigern, dazu wird der Körper optimiert, mit Silikon aufgepolstert, schließlich gestrafft, gezupft, modelliert, damit sich das Selbst im Wettbewerb der Kunstfiguren schlagen kann. Alles Leben wird an der Effizienz gemessen, am Ende wird das Feuermachen patentiert, das Rad privatisiert, der Ackerbau ein Bestseller und der freie Bürger zum wahllosen Kunden.

      "Es gibt doch eine riesige Auswahl.", versucht er zu trösten. "Jeder kann etwas passendes finden."

      Dieses Marktspiel befriedigt jedes Bedürfnis, es regelt alles, obendrein ganz von alleine. Es werde von einer unsichtbaren Hand gelenkt, so wie einst Gott die Himmelskörper auf ihren Bahnen hielt, habe der Mensch mit seinen Allüren darauf keinen Einfluss. Für den Markt sei kein Mensch verantwortlich, demzufolge verteilt sich Armut und Reichtum nachgerade göttlich.

      "Sie müssen ihre Chancen nur richtig ergreifen.", ermuntert er mich. "Es liegt einzig und allein an ihnen."

      Obschon kein Mensch für den sich selbst regulierenden Markt verantwortlich sei, muss Knechtschaft oder sonstige Ausgesetztheit niemand mehr als seligmachende Prüfung begreifen: Gott hat es so gewollt. Mit dieser leidigen Fremdbestimmung ist endgültig schluss, es bedarf keines allmächtigen Wesens mehr, welches sich darum kümmert, dass es einem schlecht geht. Nicht für diesen göttlichen Markt, aber für die eigene Misere ist endlich jeder selbst verantwortlich. Es gilt die gefeierte Freiheit des Einzelnen, am Hungertuch zu nagen.

      "Sie können doch nicht immer machen was sie wollen.", mahnt er. "Und obendrein meinen, sie wüssten alles besser."

      Mit der Inquisition wurde Gott nie bewiesen, aber irrwitzige Realitäten geschaffen: Unerwünschte, wenn sie dem Scheiterhaufen entkamen, verfaulten als Ketzer im Kerker. Nunmehr, im Fortschreiten der Humanität, landen die Abtrünnigen als Ausschussware in der Suppenküche, gewissermaßen die Kerker der ökonomischen Lehre.

      "Denken sie auch an ihre Altersvorsorge.", sagt er, während ich so kurz davor stand, nie wieder mehr Tampons zu verbrauchen. "Das kann doch alles nicht so schwer sein!"

      Die Rezeptur dieses allgegenwärtigen Glaubens ist schlicht: eine Brise übersinnliche Marktkräfte vermengt mit ein bißchen Evolutionstheorie. Aus dieser schlichten Verwurstung kommt eine Metaerzählung heraus, alles bestimmend handelt selbige vom transzendentalen Kampf der Leitsungsstarken im Wettbewerb um Marktanteile. Dies gilt allerdings СКАЧАТЬ