Название: Am Rande. Eine Bemerkung
Автор: Anna Lohg
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783742722935
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Nach so einem eindrücklichen Rundgang durch die gelebte Geschichte drängt sich allerdings die Frage auf, worin genau der Wandel, letztlich der Fortschritt eigentlich bestehe. Es will scheinen, als stecke er bloß in sowas wie einer Fernbedienung fest, meinetwegen zum Öffnen eines Garagentors. Das angeblich Moderne bleibt stets umgeben vom angeblich Überholtem und wird mitunter sogar davon überdeckt. So wie die Kathedrale, mittendrin und alles überragend, ihren langen Schatten wirft oder die Großmutter in der Dachkammer, welche den Enkelkindern unbeirrt ihre antiquierten Ansichten aufschwatzt. Trotzdem wird nach so einem Rundgang ein Wandel irgendwie sichtbar, als ein undefinierbarer Kuddelmuddel, muss wohl auch Fortschritt so verstanden werden.
Früher, als noch alles ganz anderes war und doch ganz genauso, ist das Dorf erkennbar langsamer in die Landschaft gewachsen, gewissermaßen entschleunigt, und das trotz einer entfesselten Geburtenrate. Während inzwischen um die nationale Bestandserhaltung gebangt wird, sollte ehedem der reiche Vorrat an Kindern nie sonderlich lange halten: vor dem Penicillin sorgten Bazillen für ein natürliches Gleichgewicht zwischen den Arten, Ernteausfälle hatten ihren Anteil an der Dezimierung und nicht zuletzt trugen die regelmäßig veranstalteten Massaker erheblich zum Schwund bei, während die, die dennoch am Leben blieben, meist überzählig waren. So schrumpfte der Bestand in jener Gegend zwischen Hügeln hinter Wäldern vor allem, weil beträchtlich viele flohen, gab es dort nämlich nicht einmal von der Erbärmlichkeit für alle genug. Woanders das Glück schmieden, hieß das beschönigend, klang das nach beschwingter Auswanderung, leichtem Gepäck und Erholung auf dem Sonnendeck, indes die Flüchtlinge mit Dürftigkeit vollbeladen quasi abdampften, mit dem Schiff auf in die so genannte neue Welt. Was sich in der Abgeschiedenheit von Zweiburgen niemand getraut hatte, wollten sie auf einem anderen Kontinent wagen, dort läge das verheißungsvolle Land der unbegrenzten Möglichkeiten, dort gäbe es Freiheit für alle, selbstverständlich erst nachdem es vorher von Indianern befreit worden war. Auch in diesem gelobten Land floss nicht Milch und Honig, vielmehr teilten alle bloß einen großen Traum, in dem Jedermann, meint jeder weiße Mann, vom Untertan zum König werden könnte. Für diesen Traum ist die bittere Armut allerdings unerlässlich, bräuchte doch sonst niemand davon zu träumen, sich durch bedingungslos harte Arbeit aus dem Elend zu befreien. Das seien gepriesene Verhältnisse, in denen durch die eigene Unterjochung jeder ein König werden könne, wenngleich nur eventuell, vielleicht, eher nicht. Letztlich war von den bleichen Gesichtern mit ihren fahlen Geschichten nichts anderes zu erwarten gewesen, gleichwohl haben sie es weit gebracht, von hier aus einmal quer über den Atlantik.
Unterdessen mühten sich jene die zurück blieben waren, aus den kläglichen Böden sowas wie einen fruchtbaren Acker zu machen. Die ganze Gegend, all die vielen Hügel sind eine vulkanische Hinterlassenschaft, als hätte ein urzeitliches Ungeheuer überall hin gekotzt, liegen da haufenweise die Überreste rum. Mag ein wahllos dahin gespuckter Findling pittoresk aussehen, aber wer ständig Steine umpflügt, hat nur wenig Spaß und noch weniger Ernte. So haben sich die Dagebliebenen krumm gelegt und abgerackert, aber es half nichts, weil ungünstige Voraussetzungen ungünstige Voraussetzungen blieben, daran ändern Anstrengung, Fleiß und Leistung wenig. Die hügelige Gegend sollte armselig bleiben und das Dorf vorerst nur sehr gemächlich in die Landschaft wachsen.
Unter kargen Bedingungen bedarf es keiner eilig anberaumten Flurbereinigung, um für eine neue Straße hurtig eine Schneise in die Landschaft zu schlagen, denn kaum jemand kann es sich leisten zu bauen, ein eigenes Haus bleibt ein vollkommen ausgeschlossenes Vorhaben. Träumer, überhaupt nur daran zu denken. "Wo kommen wir denn hin, wenn hier jeder über seine Verhältnisse lebt?" Das dürfen nur Könige, wäre doch ansonsten die ganze schöne Benachteiligung futsch. Den stets unhinterfragten Verhältnissen ergeben, konnten sich die Generationen damals kaum fein säuberlich voneinander separieren: da hockte die gesamte liebe Anverwandtschaft dicht gepfercht in einem nur vermeintlich schnuckligen Häuschen, nur vorgeblich einträchtig um den einzigen Ofen gedrängt, vorläufig ohne Strom und fließend Wasser, aber was es nicht gibt, vermisst auch niemand, außer vielleicht sowas wie Gott. Und die gesamte versammelte Sippschaft mischte bei Allem und Jedem mit, sparte nicht mit guten Ratschlägen über den frommen Lebenswandel, der rechten Haushaltsführung, die passende Verheiratung, die ordentliche Aufzucht vom Nachwuchs, der richtigen Zubereitung vom Sauerkraut, den zu erfüllenden Pflichten bei mangelnden Rechten. Ausgehandelte Übereinkünfte gab es keine, vielmehr war die Familie um den Ofen generalstabsmäßig organisiert und strategisch durch geplant: ein Jeder stramm auf dem ihm zugewiesenen Platz, von Vaters Gnade abhängig. Liebe und so ein Kram war die Sache von reichen Leuten auf einem anderen Planeten. Individualismus wurde zur dringend überfälligen Erfindung, derweil die beklemmende Enge von einst inzwischen wegen zunehmender Vereinzelung idealisiert wird, so war in manch einer Zukunft nur die Vergangenheit rosig.
Als läge eine geheiligte Ordnung über dem Schauplatz wurde mein Großvater in diese Verhältnisse hinein geboren, etwa gestern vor kaum mehr als hundert Jahren. Er war eine späte Nachgeburt, der Letztgeborene von reichlich vielen Kindern, von denen die meisten Älteren längst das Weite gesucht hatten, vereinzelt auch unter der Erde. Als jüngstem Kind blühte ihm wenig aussichtsreiches, zumal der älteste Sohn alles erben würde, stets alles und stets ein Sohn, selbst wenn die Familie nur Töchter hatte. Das war so und wurde schon immer so gemacht, weil doch die Töchter im gebärfähigem Alter das Elternhaus sowieso verlassen würden, um den ältesten Sohn einer anderen Familie zu heiraten. Und außerdem, wenn alle Kinder gleichberechtigt erben würden, etwa Haus und Hof, müsste dies von Generation zu Generation in immer kleinere Stückchen geteilt werden, bis am Tag des jüngsten Gerichts alle nur noch knapp Platz für die Füße hätten. Folgerichtig sollte die unerschöpfliche Kinderschar eben einfach hart arbeiten, sich die Kindheit redlich verdienen, könnte sie dann anschließend sich artig ihr Glück schmieden gehen. So lautete die gottgefällig ökonomisch höchst duchdachte Überlieferung im Umgang mit dem überschüssigen Humanmaterial, mochten sich auch viele gewünscht haben, dass wenigstens das Keuschheitsgebot bei ihrer eigenen ungewollten Geburt gefruchtet hätte.
Als mein Großvater seinen ersten Seufzer tat, waren das seine Aussichten, dennoch sollte er gänzlich unerwartet eine unbeschwerte Kindheit erleben, so ganz ohne Gummibärchen und Satellitenanschluß. Seine Eltern waren alt und nach etlichen СКАЧАТЬ